Benno drückt die junge Frau an sich und küsst sie zart auf die Wange. Sie ist Buchhändlerin in dem schönen Antiquariat in der Marienplatzpassage. Bis vor drei Monaten hat er sie täglich geküsst. Aber seit seinem Umzug an die Peripherie kommt er nur gelegentlich ins Zentrum und kann die Buchhändlerin deshalb bloß noch selten küssen, was er ungemein vermisst. Er hat in dem Antiquariat hin und wieder ein Buch gekauft, sozusagen als Alibi vor der älteren Kollegin. Die beiden, die etwas ältere und die, die er küsst, haben sich immer gern mit ihm unterhalten. In diesem Haus kennt er außerdem weitere hübsche Frauen. Eine führt im ersten Stock eine Galerie, eine andere - einen Stock darüber - ist Zahnarzthelferin. Ab nächste Woche muss er sich entscheiden, ob er weiterhin die Buchhändlerin küsst oder lieber die Galeristin. Denn die Galerie ist künftig im Parterre und das Antiquariat zieht nach oben. Heute lobt ihn die Buchhändlerin zum ersten Mal für seine Küsse. Und sie tut das auch gleich bei der Galeristin. Benno nimmt an, sie gibt der Galeristin auch noch andere Instruktionen und Tipps. Die beiden haben anscheinend überhaupt viel zu besprechen. Er ist froh über das Lob, denn er hätte vielleicht sonst nicht gewagt, gleich beim ersten Besuch die Galeristin zu küssen. Er kann sich aber noch nicht entscheiden. Vielleicht wird er doch die Treppe nach oben steigen; denn die Galeristin hat keine etwas ältere Kollegin, sozusagen als Anstandsdame. Hätte sie eine, dann würde sich für Benno nicht viel ändern, dann bliebe es beim Kuss auf Wange und er wäre des zufrieden. Während er so hin und her überlegt, disputieren die beiden Hübschen heftig über Kussvarianten. Benno hätte dazu eine Menge zu sagen, doch sie möchten anscheinend nicht, dass er sich dazu äußert. Endlich gelingt es ihm trotzdem und er unterbricht sie mit den Worten: "Je nach Situation kommt es beim Küssen auf die richtige Distanz an. Darum küsse ich die Buchhändlerin auch nur auf die Wange. Überschreitet man diese, gibt es kein Halten." Benno erwartet, dass die beiden ihn loben, und zwar einesteils für seine Disziplin, andernteils für seine kluge Bemerkung. Ihre Mienen verfinstern sich jedoch. Benno kann sich das nicht erklären. So schwer es ihm in seinen fortgeschrittenen Jahren fällt, er wird wohl künftig zwei Stockwerke hinaufsteigen müssen, zur Zahnarzthelferin, um diese zu küssen.
Gewohnheiten
von Conrad Cortin
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Interne Verweise
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- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Moderne