Ich habe mich erinnert, obwohl es gar nicht sein sollte. Der Zauber war wohl für mich nicht stark genug.
Dieses Erlebnis liegt nun schon über vierzig Jahre zurück und ich bin ein erwachsener Mann geworden, trotzdem habe ich das Kind in mir bewahrt und werde es auch weiter hüten. Alles, was mir damals zur Weihnachtszeit passierte, war heute morgen, als ich die Augen aufschlug, mit einem Mal wieder da und ich fühlte mich wieder wie ein Kind von neun Jahren.
Es war etwa eine Woche vor dem Weihnachtsfest, als ich mit meinem Jack Russell Terrier durch den frisch gefallenen Schnee stromerte. Der Hund und ich waren vom Wesen gleich, nichts war vor uns sicher, alles mussten wir erkunden und probieren und manchmal mussten wir auch Lehrgeld zahlen. Doch geteiltes Leid ist halbes Leid und es war uns im Wesentlichen egal, welche Konsequenzen unsere Kapriolen manchmal nach sich zogen.
Die Luft war frisch und bitterkalt, als ich plötzlich Schimpfen und Gezeter hörte.
Mein Jack sah mich mit seinen Knopfaugen an und sprang durch den Schnee einer winzigen Fährte hinterher.
An einer uralten knorrigen und hohlen Eiche blieb er stehen und machte Meldung. Ich stapfte hinterher und was ich dann sah, war einfach unglaublich.
Ein winzig kleines Männchen in roter Tracht und Mütze versuchte einen lächerlich kleinen Schlitten, der hoch mit Säcken vollgeladen war, wieder aufzurichten. Ich konnte jedoch erkennen, dass es ihm wegen seiner geringen Größe und vermutlich auch Körperkraft nicht gelingen würde.
Als er mich sah, sprach er mit einem dünnen Stimmchen: „Nun nimm doch endlich deine Töle fort und hilf mir gefälligst, du faules Kind.“
Ich war so verdattert, dass ich nichts erwidern konnte, Jacky beiseite nahm und dem Dreikäsehoch den Schlitten hinstellte. Dann fragte ich ihn, wer er denn überhaupt sei. „Du überaus dummer Bursche“, entfuhr es ihm. „Wie kann man denn nicht sehen, dass ich der Weihnachtsmann bin!“
Der Weihnachtsmann? Dieser Däumling? Jetzt konnte ich mir trotz seiner Unfreundlichkeit ein herzhaftes Lachen nicht mehr verkneifen. Der Lütte wartete verkniffen bis ich fertig war und drohte mir mit einem fast nicht zu sehenden Zeigefinger. „Niemand lacht den Weihnachtsmann aus!“
„Wie kannst du der Weihnachtsmann sein“, platzte ich heraus, „der Weihnachtsmann ist groß und dick und stattlich und hat Rentiere.“
Das Männchen antwortete: „Deine Blödheit ist einfach nicht zu ertragen, wie soll denn so ein vollgefressener Fettwanst wohl durch einen Schornstein passen, he?! Außerdem, hast du den Weihnachtsmann denn schon mal gesehen?“ Da musste ich ihm recht geben in allen beiden Belangen.
„Nein“, erwiderte ich, „ich habe den Weihnachtsmann noch nie gesehen.“
„Siehst du, dann lass mich jetzt endlich weitergehen, ich habe nämlich viel vor.“ Mit diesen Worten warf er mir einen vorwurfsvollen Blick zu, spannte sich vor seinen Schlitten und zog ihn mit beeindruckender Leichtigkeit weiter, so dass es mir vorkam, als hätte er mir nur was vorgemacht.
Ohne ein Wort des Dankes war er dann verschwunden und ich schwor mir, niemandem etwas davon zu erzählen.
In der Nacht zog Sturm auf und häufte den Schnee zu gewaltigen Wehen auf, ich freute mich schon auf den nächsten Tag, um in ihnen herumzutollen.
Kaum hatte ich mein Frühstück verschlungen, sprang ich mit Jacky hinaus in die weiße Landschaft, die aufgrund ihrer Schneehügeligkeit heute noch viel abenteuerlicher aussah.
Plötzlich erblickte ich einen roten Zipfel in einer Wehe, die von einem Eigenleben erfüllt war. Jacky war schon dort und scharrte den Zipfel frei. Am Zipfel befand sich eine Mütze und in der Mütze steckte der Kopf des Wichtels von gestern. Der Kleine war schon ganz rot vom Frost und vom Ärger, dem er bei unserem Anblick sofort Luft verschaffte. ,„Da seid ihr beiden Tagediebe ja wieder, ihr Taugenichtse bringt mir nur Unheil“, fistelte er mit dünnem Stimmchen. „Seht ihr Dummbatze denn nicht, in welcher Lage ich mich befinde? Wenn ich hier nicht herauskomme, ist Weihnachten im Po. Also grabt gefälligst meinen Schlitten frei.“ Mit diesen Worten holte er eine riesige Pfeife aus der Tasche, die unmöglich dort hineingepasst haben konnte, stopfte sie mit Schnee und zündete sie an. Er zog ein paarmal daran und es roch wunderbar nach Zimt. Jacky und ich gruben den Schlitten frei, während er uns die ganze Zeit schimpfend beobachtete.
So einen ungehobelten Klotz hatte ich in meinem ganzen jungen Leben noch nicht gesehen.
Als wir seinen Schlitten endlich wieder frei hatten, stieß er noch eine große Rauchwolke in den Himmel, die wie eine Sprechblase über ihm hing, so dass ich wartete, ob sie wohl zerplatzte und einen Schwall unflätiger Schimpfworte freigab. Doch sie hing an seiner Mütze fest und roch weiter nach Zimt.
,„Na, das hat ja gedauert!“, blubberte der Lütte in seinen Zwergenbart. „Wenn ich die Geschenke genauso langsam verteile, müsste der Heilige Abend ja zehn Jahre dauern. Eine Jugend ist das heute!“ Damit zog er mit seinem Gefährt erneut ohne ein Wort des Dankes von dannen.
Ich kratzte mich am Kopf und überlegte, ob ich das Erlebte irgendjemandem sagen sollte, doch ich hielt die Zeit noch nicht für gekommen.
Nun waren es nur noch sehr wenige Tage bis Weihnachten und allerorten liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren.
Mutter schickte mich am nächsten Tag in den Nachbarort zum Kaufmann Pennyfoss, zum Mehlkaufen für ihre leckeren Plätzchen.
Ich schnallte mir die Ski unter und lief mit meinem kleinen Begleiter los.
Etwa auf der Hälfte der Strecke hörte ich wieder das dünne Stimmchen, welches über die ganze Welt schimpfte. Ich musste von der Straße herunter und über ein dick verschneites Feld, um dem Gezetere näher zu kommen.
Vor mir tauchten ein paar Kopfweiden auf, die hier oft die Sölle begrenzten. Als ich über den Rand blickte, musste ich aber herzhaft lachen. Natürlich war es wieder dieser klitzekleine Weihnachtsmann.
Diesmal hing er kopfüber in einer Weide, seine Hose hatte sich irgendwie in ihren Ästen verfangen und war ihm schon bis zu den Knien runtergerutscht, so dass ich ziemlich gut den rotgefrorenen Allerwertesten erkennen konnte. Gut für ihn, dass es damals noch keine Handys gab. Ich hätte ein Vermögen mit einem Foto verdient.
Er hing also dort und zappelte wie ein Fisch an der Angel, während der Schlitten, der im Eis eingebrochen war, langsam im Wasser versank.
„Moin“, sagte ich. „Viel Glück noch“, und drehte mich um, um zu gehen. Natürlich wollte ich nur so tun. Ich wollte diesem kleinen Giftzwerg ganz einfach mal einen Denkzettel verpassen.
„He, du A…gesicht, wirst du mir mal helfen und nimm deine Töle gefälligst weg von mir.“
Jacky sprang die ganze Zeit an ihm hoch und biss ihm in den Bart, der ihm ja kopfüber ins Gesicht hing. Es war zu schön.
„Entschuldigst du dich bei mir?“ „Wofür, du Bettnässer?”, fragte er mich, während Jacky mir triumphierend ein Büschel Barthaare brachte. „Verfluchte Bande!“, brüllte der Gnom und zappelte immer stärker, wobei die Hose noch ein Stückchen weiter rutschte.
„Jacky, hol mehr Bart!“, befahl ich. ,„Nein, aufhören, ich entschuldige mich, ich habe es nicht so gemeint. Es war nur ein Test.“ „Was für ein Test?“, fragte ich sehr neugierig. „Das erzähle ich dir, wenn du mich und den Schlitten befreist.“ „Also gut“, erwiderte ich. „Aber zuerst hole ich den Schlitten, der ist wichtiger.“
Als ich mir die Schuhe und Hosen ausziehen wollte, um in das eiskalte Wasser zu gehen, rauschte es plötzlich gewaltig in der Luft. Der Schnee stob mir in die Augen, und als ich ihn herausgerieben hatte, standen die schönsten Rentiere, die ich je gesehen hatte, und der stattlichste Weihnachtsmann vor mir, natürlich mit dem grössten Schlitten.
„Halte ein!“, dröhnte ein mächtiger Bariton, „du hast den Test bestanden. Ich bin sehr zufrieden mit dir.“
Danach erzählte er mir, dass er tatsächlich der leibhaftige Weihnachtsmann wäre und alle paar Jahre in Gestalt des Zwerges erschien, um das Gute in den Menschen zu suchen und zu finden, denn nur so könne er die Tradition des Weihnachtsfestes aufrechterhalten. Bis jetzt habe es immer geklappt und er freute sich, dass es in diesem Jahr wieder so war.
Der Weihnachtsmann entschuldigte sich für die Ausdrucksweise, aber nur so wäre der Test plausibel genug.
Damit ich aber nichts verraten könne, würde er mir einen Vergessenskakao kredenzen, was er dann wohl auch tat.
Vermutlich hatte er die Ingredienzien nicht vollständig, da ich mich heute auf einmal daran erinnerte.
So schrieb ich alles schnell auf, bevor es vielleicht doch noch wieder verloren geht.
Ich sehe dies als Bonus meines Lebens … ;-)
Der vergessene Weihnachtsmann
von Michael Dahm
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- Autorin/Autor: Michael Dahm
- Prosa von Michael Dahm
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Weihnachten
Kommentare
DIE Ausdrucksweise kommt bekannt mir vor -
AU! - Frau Krause - nicht aufs Ohr ...
LG Axel