Die drei Schutzengel

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Die drei Schutzengel

Erzählung von
Hans Werner

Als im Bombenhagel feindlicher Jagdflieger wieder einmal drei afghanische Kinder bei lebendigem Leibe verbrennen mussten, obwohl sie, angstvoll am Rockzipfel ihrer Mütter, inbrünstig zu ihren Schutzengeln beteten, da riss diesen Engeln der Geduldsfaden, sie taten sich zusammen und beschlossen, an höchster Stelle eine Beschwerde vorzubringen. Ihren Dienst auf Erden wollten sie aufkündigen, falls die höchste Himmelsregierung nicht gesonnen sei, generell einen anderen Kurs einzuschlagen. Kein gewissenhafter Engel könne mehr mit ansehen, welche Gräueltaten im Namen Gottes auf dieser Welt geschähen. So dürfe es nicht weitergehen, sprachen sie zueinander und nickten sich beifällig zu. Auch wenn ihnen Knie und Flügel ein wenig schlotterten, aus Angst vor dem Anblick des Allerhöchsten, den, wie man gerüchteweise vernommen hatte, nicht einmal Engel unbeschadet ertragen könnten, waren sie doch fest entschlossen, den Flug in die eisigen Höhen des höchsten Olymp zu wagen.
Nachdem sie mit ihren mächtigen Schwingen viele tausend Kilometer zurückgelegt hatten, - die Atmosphäre wies längst keine Spur mehr von atembarer Luft auf -, erhob sich vor ihnen plötzlich das himmlische Tor, eine Art Triumphbogen, vor dem, weithin sichtbar, mit brennender Fackel, Erzengel Michael Wache stand. Schon wollte er den drei kleinen Schutzengeln, die rangmäßig weit unter ihm standen, mit strenger Geste bedeuten, dass sie schleunigst wieder auf die Erde zurückkehren und dort ihre Pflicht tun sollten, da erkannte er an ihren flehenden Mienen, dass irgendein außergewöhnlich großer Kummer ihre Engels-Seelen belasten müsse, und huldvoll und gnädig neigte er sich zu ihnen nieder.
"Weshalb fliegt ihr hierher, zu ungewöhnlicher Zeit, ihr Schutzgeister armer Menschenkinder? Warum verlasst ihr euren Gefechtsstand auf Erden?"
"Wir können nicht mehr mit ansehen, was auf der Welt im Namen Gottes alles an Grausamkeit und Unrecht geschieht," antworteten sie.
"So, so," sagte Michael und runzelte seine Engels- Stirn in Falten, "ihr könnt es nicht mehr mit ansehen. Nun, derlei Klagen sind uns nicht neu. Schon oft hat es auf der Welt Krieg und Unrecht gegeben. Wenn wir deshalb jedesmal unsere himmlische Ruhe verlieren müssten, wohin kämen wir denn dann."
"Ihr müsst uns vorlassen, zu seiner Allerhöchsten Thron!", flehten die drei Schutzengel wie aus einem Munde.
"Vor Gott könnt ihr direkt nicht erscheinen. Sein Anblick würde euch verbrennen. Aber ich kann vielleicht den Rat der Erzengel einberufen, und diese können dann eure Beschwerde dem Höchsten Herrn vortragen. Solche Sachen, wie die eure, gehen nur auf dem Dienstweg."
Erzengel Michael setzte sich seitlich des Tors auf einem Schemel nieder und hieß die drei Schutzengel näher zu sich heranfliegen. Sie sollten dann den Inhalt ihrer Beschwerde im einzelnen vortragen, Punkt für Punkt, damit er sich diese in seinem kleinen, tragbaren Taschencomputer speichern könnte.
Nun schwatzten die drei Engelchen eifrig durcheinander, so schnell und wichtigtuerisch, dass dieses Palaver bald auch andere Himmelsbewohner in hellen Aufruhr bringen musste.
"Was ist da los?", polterte Petrus dazwischen, der, seinen goldenen Schlüssel schwingend, herbeigeeilt kam, "kann man denn nicht einmal in Ruhe sein Mittagsschläfchen halten!"
"Die Menschen auf der Erde scheinen es wieder einmal bunt zu treiben“, sagte Michael, "und wieder einmal fühlen sich deren Schutzengel überfordert. Sie wissen anscheinend nicht mehr, wie sie vor allem den Ärmsten und Kleinsten der Menschen beistehen sollen."
"Ein altes Lied“, brummte Petrus unwillig, "das hatten wir schon oft."
"Aber diesmal scheint es besonders ernst zu sein", sagte Michael. "Die Menschen sind grausam, nicht aus persönlicher Machtgier, sondern sie berufen sich dabei auf Gott selbst, geben vor, dessen höchsten Willen zu erfüllen."
"Auch das nichts Neues", erwiderte Petrus. "Erinnert ihr euch denn nicht an die Kreuzkriege oder an die Hexenverbrennungen. Wieviel Unfug hat der religiöse Fanatismus nicht schon auf der Welt angerichtet! Da können wir vermutlich nichts machen." Er sprach's und wiegte dabei nachdenklich sein Haupt.
Nun aber meldete sich einer der drei kleinen Schutzengel, die, mit gefalteten Flügeln, demütig am Wolkenboden lagen, mutig zu Wort und sagte:
"Das Schlimmste ist, nun jagen sich die Menschen selbst mit Bomben und Zeitzündern in die Luft, um damit möglichst viele der anderen Gottesparteien in den Tod zu reißen."
"Was, nicht einmal ihr eigenes Leben schonen sie?" Petrus war nun doch sehr erregt. "Das geht nun doch zu weit. Das müssen wir dem Höchsten melden." Und dann sagte er zu Gabriel und Raphael, die sich mittlerweile auch voller Neugier hinzugesellt hatten,: "Gott hat damals, als er die Menschen erschuf, mit Bedacht einen bestimmten Trieb in sie hineingelegt, den Trieb zur Selbsterhaltung, damit sie vor dem allergrößten Unfug bewahrt bleiben würden, wie er sich damals ausdrückte. Die Menschen sollten ihn zwar anbeten und ehren, und das bis zur mystischen Verzückung, aber sie sollten dabei immer noch Menschen bleiben und ihr eigenes beschränktes Leben lieben. Nur dann seien sie ihm als Menschen wohlgefällig. - Wenn die jetzt anfangen, sich selbst umzubringen, sich als lebende Bomben in die Schar ihrer Gegner zu werfen, dann ist ja die ganze Schöpfung verkorkst. "
Raphael, Michael und Gabriel nickten eifrig und beifällig, so viel hatten sie Petrus selten an einem Stück reden hören. Auch die drei kleinen Schutzengel stimmten mit ein und wollten sogar in die Hände klatschen, doch ein strenger Blick Michaels verwies ihnen solch vorlautes Benehmen.
"Ihr wartet hier, bis wir wiederkommen“, sagte Petrus zu ihnen, "und kein Wort von eurem Anliegen an andere Personen, etwa arme Seelen, die hier dauern angekrochen kommen und um Einlass begehren. Am besten, ihr macht euch dünn und unsichtbar." Dann entschwand er durchs Tor in das Himmelsinnere.
Dieses Himmelsinnere konnte man nach Bedarf verändern. Die olympischen Innenarchitekten hatten sich einiges einfallen lassen, um des Allerhöchsten Wohnung standesgemäß auszustaffieren. Wie bei einer großen Opern-Drehbühne ließ sich die Kulisse verändern, je nach dem Publikum, das zuweilen den Himmel aufsuchte. Mal befand man sich in einer christlich barocken Kirche, überladen mit Zierrat, volltönendes Orgelbrausen klang von überdimensionierten Emporen, Weihrauchschwaden erfüllten die Luft. Ein andermal war man in einer hinterindischen Pagode, man hörte monotones Raunen der Gebetsmühlen, die Schritte der trippelnden Mönche raschelten über den mosaikgetäfelten Holzböden. Oder man befand man sich in einer Moschee, auf Geheiß der Mullahs verbeugten sich lange Reihen andächtiger Gläubiger gegen Osten, die zitternden orientalischen Melodien des Muezzin durchzogen die Hallen. Und manchmal, wenn Gläubige aus dem Wilden Westen den Himmel besuchten, erblickte man endlose Prärien, die ewigen Jagdgründe Manitus, in denen Büffelherden, heftig schnaubend und Staub aufwirbelnd, vorüber trampelten.
Petrus beachtete diese Schauspiele mit keinem Blick. Er ließ sich sofort bei der höchsten himmlischen Majestät anmelden. Man wollte zunächst von ihm wissen, in welcher Sache er vorstellig würde, im Namen welcher Gottespartei er den Allerhöchsten zu sprechen wünsche. Denn der Allerhöchste erschien dann stets in der entsprechenden Kleidung. Auf Etikette legte man nämlich im Himmel allergrößten Wert.
Petrus gab Bescheid, dass afghanische Schutzengel angelangt seien zu unbotmäßiger Beschwerde. Von außen schon konnte man ein göttliches Räuspern vernehmen, das so unwirsch und unwillig klang, dass einem bereits hier vor dem drohenden göttlichen Zorn Angst und Bange werden konnte. Doch Petrus war, seit er damals Christus verleugnet hatte, schon Schlimmstes an göttlicher Rüge gewohnt und ließ sich nicht entmutigen.
Das Tor wurde endlich aufgetan. In gleißendem, für menschliches Auge undurchdringlichem Licht konnte man die Anwesenheit des Allerhöchsten vermuten. Von allen Seiten vernahm man ein rhythmisch ekstatisches Rufen: "Allah sei gepriesen! Allah sei gepriesen!" Plötzlich herrschte tiefe Stille. Eine Stimme, wie aus dem Wesenlosen, erklang: "Nun sprich!"
"Ehrwürdiger Herr“, sprach Petrus, der nun doch fast allen Mut verloren hatte und sich ganz zusammennehmen musste, um überhaupt noch ein Wörtchen herauszubringen, "auf der Erde ist es schlimm. Du kannst den Dingen auf der Welt nicht mehr ihren natürlichen Lauf lassen. Du musst endlich eingreifen. Entweder sind die Menschen ganz gottvergessen oder sie dienen dir mit solchem Fanatismus, dass man nicht mehr sagen kann, was von beiden schlimmer ist. Am schlimmsten aber scheint mir, dass sie ihr eigenes Leben wegwerfen, wegschleudern, nur um dir zu dienen."
"Fiat. Es möge geschehen." Antwortete der Herr aus gleißendem Licht. "Auch Märtyrer im römischen Altertum haben mich durch ihren glorreichen Tod verherrlicht. Nichts Schlimmes kann ich daran finden."
"Aber sie machen Dich zum Schrecken der Welt, Allerhöchster. Sie kapern Flugzeuge, fliegen in die Wohnburgen zivilisierter Menschen, lassen diese explodieren und gehen dabei, wie lebende Fackeln, selbst in die Luft. Sie fürchten sich nicht mehr vor dem Schrecken der lodernden Flammen, noch vor dem eigenen Tod."
Eine Weile schien im gleißenden Licht der Allerhöchste zu schweigen. Göttliches Nachdenken schien ihn zu erfüllen. Dann plötzlich hob er an zu sprechen.
"Ich wollte die Menschen sich selbst überlassen. Denn ich vertraute ihrem gesunden Menschenverstand und ihrem gesunden Trieb, sich selbst zu erhalten. Nun aber muss ich einsehen, dass das ein göttlicher Irrtum war. Die Menschen, wenn sie mich fanatisch verehren, sind noch viel schlimmer, als ich je gedacht habe, dass sie es einmal werden könnten." Einen Augenblick lang verstummte die Stimme des Allerhöchsten, dann sagte sie, nun plötzlich ganz leise und zutraulich: "Petrus, was rätst du mir? Was soll ich tun?"
Das war ungeheuerlich. Noch nie war es vorgekommen, dass der Allerhöchste selbst Rat suchte, bei einem seiner Untergebenen. Petrus war wie versteinert vor Überraschung. Ihm war, als sei er keines Gedankens fähig. Zu groß war die Bürde der Verantwortung, die unerwartet auf ihm lastete. Dann sprach er, ohne bewusst zu überlegen, einige Worte, schlichte und bescheidene Worte, die wie unbeabsichtigt aus ihm hervorkamen:
"Gib ihnen Geduld und Versöhnlichkeit. Lass sie friedfertig sein. Und wandle das Bild, das sie von Dir, dem Allerhöchsten, in sich tragen. Hilf, dass sie es schaffen, Dich zu lieben, ohne dadurch andere zu hassen."
Petrus war zurückgesunken aus Angst vor der Wirkung seiner eigenen Worte. Noch nie hatte er sich vermessen, solche Worte vor dem Thron des Allerhöchsten zu sagen. Er rechnete damit, dass ihn nun unweigerlich göttliche Blitze in tausend Stücke zerreißen müssten.
Doch wider Erwarten verwandelte sich das gleißende Licht in ein mildes Leuchten, nicht stärker als der schwache Schein einer Petroleumlampe, und auf einem kleinen Teppich sah man ein zweijähriges Kind spielen. Es blickte Petrus mit treuherzigen Augen an und reichte ihm seine kleine menschliche Hand. Dann sagte es: "Spielst du mit mir Versteck? Guter Großvater? Ich zähle bis drei, und dann bin ich verschwunden. Such mich überall. Es ist schwer, mich zu finden. Aber wenn du mich gefunden hast, dann wirst du glücklich sein. Auch die andern um dich herum werden glücklich sein." Und auf einmal war das Kind verschwunden. Petrus war wieder allein am Himmelstor, vor ihm knieten immer noch in kauernder Stellung die drei kleinen Schutzengel und hielten ihre Augen fragend auf ihn gerichtet. "Was ist? Was sagt Gott?"
Und Petrus neigte sich huldvoll zu ihnen hinunter und sprach also:
"Euer Flehen war nicht umsonst. Die Menschen werden geduldig sein, versöhnlich und friedfertig, und sie werden Gott schauen als spielendes Kind, gleich welcher Gottespartei sie angehören. Die Gottesbücher mit ihren kalten Lehren können die Menschen nicht mehr ansprechen. Nur noch eine Bibel vermögen sie zu lesen, das sind die großen erwartungsvollen Augen ihrer Kinder. In diesen Augen, die kein Falsch und kein Trug kennen, wohnt Gott. Und wer so recht aus den treuherzig blickenden Augen eigener Kinder die Menschenliebe erfahren hat, der wird auch den Kindern fremder Menschen nur mit Liebe begegnen können. - - - Freilich, freilich“, und Petrus wiegte nachdenklich sein Haupt, "schon einmal wurde Gott zum Kind, damals in der Krippe. Und zugleich geschah der Kindermord durch Herodes. Und viele Jahrhunderte später wurden Kinder zu Tausenden in Schreckenslagern mit Phenol umgebracht. Auch sie, die Augen der Kinder, sind nicht allmächtig. Aber kein Schrecken des Bösen, und sei er noch so teuflisch, hat die liebeheischende Kraft der Kinderaugen je besiegen können. Kinder sind die Bibel der Zukunft." Petrus atmete schwer. Er hatte sich beim Sprechen leidenschaftlich hineingesteigert und sich ein wenig überanstrengt. "Und nun geht. Eure verbrannten Kinder, die eurem Schutze anbefohlen waren, werden bald wiedergeboren werden. Und aus ihren Augen wird der neue Gott leuchten, nun und immerdar und in Ewigkeit."
"Amen!", sagten die drei kleinen Schutzengel, sie waren durch Petrus' Worte ganz ergriffen, danach flogen sie, in Richtung Erde, mit munterem Flattern wieder davon.

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