Keine Weihnachtsgeschichte

Bild von Dieter J Baumgart
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     Werner Faust, verheiratet, keine Kinder, nach dem Abitur Lehre als Bankkaufmann, seit zwölf Jahren Kassierer in der Zweigstelle VII der Privatbank Rosenbäumer & Cie., seit vier Jahren erster Kassierer und Vertreter des Zweigstellenleiters, genießt im Geschäfts- und Privatleben einen untadeligen Ruf. Mit achtundvierzig Jahren hat er seine wesentlichen beruflichen Ziele verwirklicht. Die Arbeit mit Kollegen und Vorgesetzten ist harmonisch. Mißgunst und Karrieresucht sind für Werner Faust Fremdworte. Inge Faust, seine Frau, ist Bibliotheksangestellte. Beide sind den beruflichen Umgang mit Menschen aus allen Schichten gewohnt, was sich auch in einem weitläufigen gemeinsamen Bekanntenkreis niederschlägt.
Als Werner Faust an diesem ersten Donnerstag im Dezember des Jahres 1971 die Geschäftsstelle morgens um sieben Uhr fünfzig wie immer durch den Hintereingang Annastraße betritt, ahnt er nicht, daß dieser Tag sein Leben in einer Weise verändern wird, die er niemals für möglich gehalten hätte. Nichts deutet darauf hin. Und auch die Überprüfung der Geschäfts- und Tresorräume, die er zusammen mit dem wenige Minuten nach ihm eintreffenden Leiter der Geschäftsstelle vornimmt, verläuft zu beider Zufriedenheit. Die heißesten Wochen des Jahres kündigen sich an. Erhöhter Bargeldumsatz, Anlage- und Vermögensberatung erfordern ständigen und vollen Einsatz aller Mitarbeiter. Den Allround-Service der Großbanken kann Rosenbäumer & Cie. nicht bieten. Dafür steht hier der persönliche Kontakt zum Kunden im Vordergrund.
     Um neun Uhr dreißig erscheinen die ersten Händler vom nahen Weihnachtsmarkt zum Geldwechseln und Einzahlen. Fröhliche Gesichter. Das Geschäft am Vorabend war recht gut, die Leute sind in Kauflaune. Die alte Frau Hebenauer aus der Greifstraße gehört sicher nicht dazu. Zum ersten Januar wird die Miete erhöht. Sie muß den Dauerauftrag ändern.
„Wenn ich nicht mehr bin“, sagt sie, „wie geht denn das dann weiter? Da ist doch niemand, der sich drum kümmert...“
Eine junge Kollegin berät sie, gibt Tips und wählt geeignete Broschüren aus. Werner Faust hört das Gespräch in seinem Glaskasten mit halbem Ohr mit. ‘Das macht sie gut’, denkt er, ‘wirklich gut...’
     „Einen Scheck? Nein, den kann ich Ihnen nicht auszahlen. Wenn Sie ein Konto bei uns haben, können Sie ihn zur Verrechnung einreichen –. Ja, Schalter drei, bitte.“
     Es ist jetzt halb eins. Jedesmal, wenn die Tür aufgeht, zieht ein Gemisch aus Bratwurst-, Reibekuchen- und Glühweindunst durch den Raum. Die ‘Freßmeile’ vom Weihnachtsmarkt ist direkt auf der anderen Straßenseite. Das Geklapper der Scheckausdruckmaschine vermischt sich dann für kurze Zeit mit der Geräuschkulisse aus Weihnachtsliedern, Glockengeläut und Verkehrslärm. Monatsanfang, die Scheckhefte werden nachgefüllt. ‘Einen Vorraum und Zwischentüren’, überlegt Werner Faust, ‘schon aus Sicherheitsgründen muß da was gemacht werden. Wir können uns das einfach nicht mehr leisten – eine Bank ist schließlich kein Tante-Emma-Laden.’ Er erinnert sich an das letzte Gespräch mit dem Leiter der Zweigstelle: ‘Sie wissen, daß ich da ganz Ihrer Meinung bin, Herr Faust. Aber mir sind die Hände gebunden. Die Zentrale... Sehen Sie, in zwei Jahren werde ich pensioniert. Sie sind mein designierter Nachfolger – das wissen Sie. Und – na ja, Sie wissen auch, daß es mit dem Einbau der Zwischentür nicht getan ist. Die ganze Geschäftsstelle muß umgebaut werden – oder ...’ Ein resigniertes Achselzucken beendete den Satz.
     Nein, es wird kein leichtes Erbe sein, das er da in zwei Jahren antritt. Aber Werner Faust ist zuversichtlich. Das Renommee bei den Kunden ist gut, und die Zentrale weiß das. Wieder geht die Tür auf. Die kalte Winterluft bleibt im Kundenbereich, aber die ‘Duftwolke’ vom Weihnachtsmarkt wird von der Klimaanlage auch in den Glaskasten gedrückt. Werner Faust schaut kurz auf. Ein Weihnachtsmann, an der Hand ein kleines Mädchen, betritt die Geschäftsstelle.
     „Ach, bitte“, sagt er und schließt langsam die Tür, „die Kleine sucht ihre Eltern –. Ist hier jemand, der sie kennt?“
     Sieben Augenpaare, drei Kunden und vier Bankangestellte, mustern neugierig den Weihnachtsmann, der, mit dem verschüchterten Kind an der Hand, zielsicher auf den Glaskasten des Kassierers zusteuert.
     „Ich habe den Namen der Kleinen aufgeschrieben“, fährt er fort und schiebt einen Zettel unter dem Panzerglas durch.
               „LINKE HAND AUF DEN TISCH! 45 000 DM RECHTS AUS DEM TRESOR!
               ODER ICH ERSCHIESSE DAS KIND! SOFORT!!“ liest Werner Faust.
     „Vielleicht kennen Sie die Eltern?“ fährt der Weihnachtsmann fort und wirft einen Blick in die Runde.
     Werner Faust weiß, was er zu tun hat. Keine Panik, keine nervöse Bewegung. Blickkontakt mit dem Täter und Ruhe bewahren. Trotz der Spiegelungen im Panzerglas versucht er, die Augen des Mannes hinter der Larve mit dem weißen Wattebart zu erkennen. ‘Fünfundvierzigtausend’, schießt es ihm durch den Kopf, ‘das ist der Kassenbestand in Noten  –  ohne die zehntausend Handgeld. Der hat sich informiert! Fünfundvierzigtausend für das Leben eines Kindes!’
     „Machen Sie sich nicht unglücklich“, sagt er leise, fast mechanisch, „Sie können noch zurück.“
     Die drei Kunden befassen sich wieder mit ihren eigenen Problemen; der Weihnachtsmann mit dem Kind ist beim Kassierer in guten Händen.
     „Ich habe nichts zu verlieren“, entgegnet der Mann hinter der Maske, „mich kriegen Sie nicht – nicht lebendig. Also los!“
     ‘Der ist wahnsinnig!’ versucht Werner Faust, seine Gedanken zu ordnen. ‘Das Kind als Geisel – die Beiden trennen – er muß sich sicher fühlen – mit dem Geld...’ Leise sagt er: „Sie bekommen das Geld. Bleiben Sie ruhig.“
Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, tastet er nach den Schließmechanismen des Kassentresors rechts neben sich unter dem Tresen. Dann überstürzen sich die Ereignisse.
     Die Eingangstür wird aufgerissen.
     „Jutta –?“ ruft eine verzweifelte Frau, während der eindringende Verkehrslärm deutlich vom Geheul einer Polizeisirene überlagert wird. Fast gleichzeitig fällt ein Schuß und das Kind wird durch den Raum geschleudert. Die Anwesenden sind wie versteinert. Langsam kriecht die Realität in das Bewußtsein der Menschen. Tatsächlich sind seit dem Erscheinen der Frau keine zwei Sekunden vergangen.
     „Mami, ich habe Angst...“, löst die Stimme des Mädchens, das völlig verängstigt aber unverletzt unter dem Kundenschreibtisch hockt, die Starre des Augenblicks.
     „Jutta –!“
     Werner Faust faßt sich als erster: „Er war allein, es ist keine Gefahr mehr. Er – er ist tot.“
Dann drückt er den Alarmknopf links unter dem Tresen, neben dem Stapel

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)

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