Keine Weihnachtsgeschichte - Page 8

Bild von Dieter J Baumgart
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Frau Hebenauer. Hunderttausend Mark, und Sie sind alle Sorgen los!’ Oder die Wahrheit? ‘Es ist zu spät, Sie haben den Einsatz verpaßt. Im Spiel des Lebens sind Sie auf der Verliererseite gelandet. Tut mir leid für Sie, Frau Hebenauer.’
     „Nicht mit mir!“ sagt er so laut, daß sich eine junge Frau erstaunt zu ihm umdreht. Erst jetzt nimmt er seine Umgebung wieder wahr und stellt fest, daß er vor einem Spielwarengeschäft stehengeblieben ist.
     „‘tschuldigung!“ murmelt er und lächelt die Passantin betont beiläufig an. Dann wendet er sich wieder dem Schaufenster zu. Im Vordergrund schließt sich lautlos eine kleine Bahnschranke, gleich darauf naht von rechts aus einem Tunnel eine Lokomotive mit drei Personenwagen im Stil der vierziger Jahre, passiert den Bahnübergang und hält kurz danach an einem liebevoll ausgestalteten Vorortbahnhof. Während er den Zug mit den Augen verfolgt, bleibt sein Blick plötzlich an etwas hängen, das im Hintergrund schwarz, rot und silbrig aufleuchtet. – Nein, es ist kein Weihnachtsmann! Ein Roulette-Spiel blinkt und glitzert in der Spotbeleuchtung, hebt sich plötzlich magisch von allem anderen ab. Der kleine Personenzug verläßt den Bahnhof, verschwindet im Hintergrund der Schaufensterdekoration, kommt vorn rechts wieder aus dem Tunnel. Werner Faust sieht nur das Roulette. Als er wenig später im Laden steht, hätte er nicht sagen können, wie er hineingekommen ist.
     „Sie wünschen bitte?“
     Er zuckt zusammen, fühlt sich irgendwie ertappt. „Ich – äh, bitte, das Spiel, das Roulette, da draußen im Schaufenster ...“
     „Ja, bitte –?“
     „Ich würde mir das gern mal ansehn.“
     „Ja, natürlich, gern!“ lächelt die Verkäuferin. Dann, etwas zögernd: „Ich muß eben den Dekorateur rufen – es ist, wir haben nur dieses eine in der Größe –. Einen Augenblick, bitte.“ Sie telefoniert. Dann: „Es ist ein sehr gutes Spiel. Die Mechanik entspricht denen in den Kasinos. Und das Tableau ist aus hochwertigem Filz ...“
     „Ah, ja, “ erwidert Werner Faust mit belegter Stimme, „was –  hrmm  –  was kostet es denn?“
     „Fünfhundertsechzig Mark –. Ach, Herr Olbers, der Herr hier hätte gerne das große Roulette aus der Nähe gesehen...“
     Dem Dekorateur ist die Freude über diese Bitte nicht gerade ins Gesicht geschrieben. Selbst Werner Faust bemerkt das.
     „Ich bin wirklich daran interessiert“, sagt er und lächelt die Verkäuferin an.
     „Sind Sie Croupier?“ lächelt sie zurück.
     ‘Die gleiche Haarfarbe und Frisur wie Inge’, konstatiert er und fühlt sich einigermaßen verunsichert. „Nein – nein“, erwidert er schließlich und fährt zögernd fort: „dann hätte ich ja eins – von Berufs wegen...“
     „Nun ja“, gibt sie zu bedenken, „vielleicht für zu Hause – zum Üben!?“ sie lacht.
Jetzt fühlt er sich endgültig ertappt. ‘Verdammter Idiot’, denkt er, ‘laß’ dich doch nicht auf solche Gespräche ein!’ Der Dekorateur erscheint ihm wie ein rettender Engel.
     „Vielen Dank auch!“ sagt Werner Faust eine Spur zu laut und bemüht sich, das Zittern seiner Hände beim Berühren des Spielgerätes zu unterdrücken. Er hat, außer gelegentlich in Filmen, noch nie ein Spielkasino von innen gesehen. Fachmännisch, wie er glaubt, greift er in das Drehkreuz und bringt die Schüssel in Schwung. Unwillkürlich stellt er sich auf den Zeitlupeneffekt ein und begreift plötzlich, warum er sich überhaupt für dieses Spiel interessiert. Die Gedankengänge, die seit dem Blick ins Schaufenster mehr oder weniger unterbewußt abliefen, scheinen abrupt wieder an die Realität gekoppelt. Er stellt fest, daß er gerade dabei ist, ein Viertel seines Monatsgehalts für ein Spielzeug auszugeben.
     „Die Kugeln sind im Karton im Lager, zusammen mit der Spielanleitung“, unterbricht der Dekorateur die eingetretene Stille.
     „Danke – vielen Dank! – Ja, ich glaube, ich nehme das Spiel“, sagt Werner Faust zu seiner eigenen Überraschung. „Ich – würde es gern anzahlen, mit – sagen wir zweihundert Mark?“ Seine Gedanken überstürzen sich: ‘Wenn jetzt einer käme und würde sagen, das sei nicht möglich, dann...’ Aber die Verkäuferin nickt erfreut, und auch der Dekorateur betrachtet den Kunden mit erwachendem Interesse.
     „Ich hole es dann nächste Woche ab.“ Er hat das Gefühl, in einem führerlosen Boot durch eine Stromschnelle zu wirbeln. Zehn Minuten später steht er wieder auf der Straße, wirft noch einen Blick ins Schaufenster, wo der Dekorateur eben die entstandene Lücke mit einem Computerschachspiel schließt, und macht sich auf den Weg zur Bank. Eine eigenartige, irgendwie zwiespältige Hochstimmung ergreift von ihm Besitz. Er hat den ersten Schritt getan. Werner Faust nimmt das Ruder wieder in die Hand. Er plant.
     Hatte Inge nicht erst kürzlich wieder ihr Interesse an einem Ikebana-Kurs bekundet? Morgen Abend gehen sie gemeinsam essen. Er wird das Gespräch darauf bringen: ‘Das wäre doch eine gute Idee, Inge! In den nächsten Wochen wird es bei mir öfter spät werden –. Und du kannst mit deinen Arbeiten in der Bibliothek glänzen...’ In Gedanken spielt er den Gesprächsverlauf durch. Die versammelten Weihnachtsmänner in der Auslage einer Kaffee-Filiale bringen ihn nicht mehr aus dem Gleichgewicht. Da ist ein Ziel, auf das er hinarbeiten kann. Noch etwas nebelhaft zwar, aber immerhin ein Ziel! Die Weichen sind gestellt, das Abstellgleis gehört der Vergangenheit an. Er schaut auf die Uhr. Es ist noch etwas Zeit, er macht einen Umweg über die Volkshochschule im Rathaus und studiert das Kursangebot. Nach Dienstschluß nimmt er alles an Arbeitsunterlagen mit nach Hause, was nur irgendwie vertretbar ist. Zwei Abteile des sechstürigen großen Wandschranks in seinem Arbeitszimmer räumt er aus und verteilt die neuen Akten großzügig.
     „Es wird noch mehr werden“, sagt er zu seiner Frau. „Da ist noch eine komplizierte Vermögensangelegenheit, in die ich mich einarbeiten muß, und – ja“, er lächelt, glaubwürdig, wie er hofft, „ich muß den ganzen Kram unter Verschluß halten. –  Nicht, daß du denkst, ich hätte etwas vor dir zu verheimlichen, Inge...“
     Er tappt da etwas im Dunkeln, was seine Frau betrifft. Sie hatten noch nie Geheimnisse voreinander, und er weiß nicht, wie sie darauf reagiert. Nun, auf jeden Fall wird er, so oft er kann, die eine oder andere Tür offenlassen. Sie soll nicht den Eindruck gewinnen, daß er etwas vor ihr versteckt. Ja, Werner Faust plant, und er

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)

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