Gespräche in der Flirt Box 6000 - Page 2

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besseren Kreisen verkehrt, die besseren Autos gefahren, die besseren Männer geehelicht. In allem ist und war Clothilde besser. Selma kann diese alte Zimtzicke nicht ausstehen. Veranstaltet im Rosenfrieden regelmäßige Modenschauen, Diskussionsrunden, Lesungen, Auftritte von Solokünstlern und Koch-Shows. Sie ist ein ständiger Unruheherd in den Augen unserer freundlichen Selma. Die will doch nur eines: Ihre Ruhe und ihren Frieden haben. Nur keine Unruhe. Nur keine Aufregung.“

„Jedoch gilt es zu bedenken, dass Selma ein Leben lang herum geschubst und sehr oft aber auch völlig übergangen wurde. Daraus resultiert eine tiefe Verbitterung, die sich gerade im Zank mit einer gehässigen Clothilde entlädt. Sie soll doch bitteschön selbst entscheiden, ob sie überhaupt mit der Clothilde zu sprechen wünscht, wenn sie sich schon außerhalb der Residenz begegnen. Jens, ich finde, sie soll auf ihrer Straßenseite dieser Clothilde begegnen. Wenn sie möchte, kann sie ja auch stumm an ihr vorüberziehen. Das wäre ein kleiner Triumph. Clothilde, was für ein Name, stünde sprachlos und mit offenem Mund da. Übergangen. Das wird ihr eine Lehre sein, schätze ich mal.“

„Das Lebensglück wartet aber auf der anderen Straßenseite! Definitiv!“

„Schlimmer wiegt doch hier, von einer total unbekannten Person mittels massiver Gewalt über die Straße geschleift zu werden. Wenn ich Selma wäre, und nun zu wählen hätte, angesichts meines komplexen Hintergrundes, der nicht gerade arm ist an Verzweiflung, Not und Demütigung: Begegne ich jener Clothilde oder wechsele ich gegen meinen Willen die Straßenseite (brutalst genötigt), dann, lieber Jens, wollte ich denn doch gern mit meiner Lederhand die dreiste Clothilde ohrfeigen als rechtlos dazu gezwungen zu werden, die Straßenseite zu wechseln. Abrupt, mitten aus dem Tran gerissen, völlig ohne Vorwarnung, einem uralten Nazi mit Rollator recht hilflos ausgeliefert.“

„Beste Ida, du vergisst dabei völlig, dass Selma, es ist noch keine 8 Monate her, ihre beste Freundin aus dem Rosenfrieden, Barbara, hatte zu Grabe tragen müssen. Sie fehlt ihr sehr. Seither ist sie besonders sensibel, enorm traumatisiert, und in jedem Fall sehr verletzlich. Begegnet sie jetzt auch noch ihrer Erzfeindin, wer weiß da schon, wie sich das aufs Gemüt der armen Selma legt? Sie trauert, ist oft etwas unaufmerksam. Da wird es gut sein, wenn ein schützender Arm sie über die Straße geleitet. Sacht, aber auch rigoros. Einem verwirrten Charakter muss man auch ein wenig forsch begegnen. Wenn sie sich auch wehrt, sie muss auf die andere Seite.“

„Aha? Kommt da jetzt so ein Grobian daher und schleift sie am Arm auf die andere Straßenseite, obschon sie sich heftig wehrt, dann verstärkt dies den Gram und den Kummer in nie gekanntem Ausmaße. Das Ur-Trauma verschärft sich, verstärkt sich mannigfach, die arme Frau könnte sogar, noch kurz vor dem 90. Geburtstag, in der Psychiatrie landen. Daher: Auf gar keinen Fall darf sie zu irgendetwas genötigt oder gezwungen werden. Es ist die Zeit, ihr Trost zu spenden, ihrer Seele zu schmeicheln, sich rührend um sie zu bemühen, nicht aber, ihr Gewalt anzutun. Oh Jens, ich sehe schon, was den Umgang mit unseren Altvorderen betrifft, haben wir eine sehr große Diskrepanz aufzuweisen. Wie wir mit unseren Alten umgehen, so sind wir, das ist das Rückenmark unserer Persönlichkeitsstruktur. Und du bist wahrlich unmöglich, Jens. Es müsste gesetzlich verboten werden, wie du mit dieser armen Dame aus dem Altenheim Rosenfrieden umspringst. Pfui, schäm dich...“

„Nun gut, Frau Diskrepantin, möglicherweise war dir aber nicht bewusst, dass eben dieser Herbert vielleicht, wer weiß, genau der richtige letzte Lebensabschnittpartner für die gute Selma wäre. Somit wäre dann die Begegnung auf der richtigen Seite der Straße doch ohne Zweifel Schicksals bedingt gewesen. Dann hätte sich doch alles aufgeklärt. Genau da hätte sich alles geraderücken lassen können. Man muss dem Kismet auch die Chance geben, sich zu finden. Das wäre sicher der Beginn einer möglicherweisen langen, sehr langen....“

(hier räuspert sich Ida wiederholt, Jens setzt neu an und fährt fort)

...“einer möglicherweise relativ kurzen, aber sehr heftigen Liaison geworden, ist das nicht im Bereich des Möglichen?“

„Selma und Hörb? Ein Liebespaar? Niemals!! Ich würde dich gerne fleißig töten, du Schuft! Jens, das lasse ich niemals zu! Selma und Hörb? Undenkbar! Dieser Salon-Strizzi trägt doch Wadenimplantate!“

„Darüber tuscheln doch alle in der Seniorenresidenz. All das Uzen und Foppen, das Necken und Triezen, du weißt schon, dieses Frotzeln und Vexieren, das hat seinen Hintergrund. Die beiden fühlen sich zueinander hingezogen, nur weiß es Selma nicht so richtig, tief im Inneren. Gib es ruhig zu, die beiden passen gut zueinander. Er 95, sie bald 90. Da stimmt doch nun alles! Und Hörb scharwenzelt doch schon seit 2019 um Selma herum.“

„Er ist ein Alt-Nazi! Und Selma hasst Nazis! Da kann der greise Typ erfunden haben, was immer er mag, von mir aus den Telegrafenmasten oder die Tischtuch-Klammer. Ich sage und bleibe dabei: Hörb und Selma ein Paar? Nicht mit mir!“

„Dann begegnet sie also Clothilde und verstirbt an einem Schlägerl, nach all dieser Aufregung? Mitten auf der Straße? Was für ein unwürdiger Tod. Und das noch im Angesicht des Feindes, der feixenden Clothilde. Im Rosenfrieden nennen sie diese kreuzfidele Alte „die wilde Clothilde“. Und genau die ist jetzt am unsanften Ableben deiner Selma schuldig geworden. Nur, dich stört das überhaupt nicht. Allerdings auf der anderen Straßenseite: Da wäre Selma das Glück mit Rollator entgegengerattert.“

„Spinner! Du bist wirklich ein total verrückter Kerl. Nein, mit so einem möchte ich auf gar keinen Fall mein Leben fristen. Was du dir da zusammen phantasierst. Kommen auf keinen grünen Zweig, wir beide. Ich lege mein Veto ein: Hörb und Selma werden kein Liebespaar! Selma wird Clothilde auf meiner Straßenseite sehr souverän und in jedem Fall würdevoll begegnen, und dabei hinüber winken, Hörb kurz zu begrüßen. Trotz dessen politischer Gesinnung kann man sich ja dennoch grüßen, wenn man sich außerhalb des Rosenfriedens sieht. Warum nicht. Wie lange haben wir noch? Besser gesagt, wie lange müssen wir noch miteinander?“ Ida seufzt.

Jens sieht auf die Uhr. Es sind noch knapp 30 Minuten. „In der Zeit könnten wir noch den Chianti schlürfen und ein wenig den Mond anheulen. Darf ich rauchen?“

„Nei-en! Auf gar keinen Fall. Das wäre ja noch schöner... Nein, bester Jens, mit dir ist das nichts, auf Dauer. Ein Quickie wäre vielleicht drin. Mehr aber nicht. Es gibt da so viel, was ich an dir nicht leiden kann. Der Umgang mit den Senioren, und auch, dass du Raucher bist, deine Gewaltbereitschaft noch zudem. Weitere Punkte wären deine gewisse Affinität zum braunen Gedankengut und...“

Jens wirft ein: „Lass bitte stecken. Schon gut. Trinken wir den Castelli del Grevepesa aus, wir haben schließlich viel Geld dafür bezahlt, und lauschen wir dem Plätschern eines nicht existenten Gewässers. Wie kann man die Musik denn nur abstellen? Das nervt mich am allermeisten, dieses Drecks-Italo-Pop-Gedudel....“

Hier verlassen wir die Flirt Box Nr. 12, wenden uns anderen Dingen zu. Ida und Jens werden wohl kein Paar, aber, stellen Sie sich nur vor, es gab in den darauffolgenden Tagen und Wochen ganze 39 Quickies. Während all dieser Treffen bat sich Ida aus: „Nicht sprechen, nicht küssen! Und keine Diskussionen über den Eintänzer Herbert, den aus unerfindlichem Grund alle nur Hörb nennen im Rosenfrieden.“

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Interne Verweise

Kommentare

19. Jan 2021

Lesenswert und anstrengend zugleich. Auch ich bin ein alter Sack,
der in die Welt so recht nicht hinein passt. Starker Text - eine
Einladung in die schöne und neue Erlebniswelt, wo ALLES
konsumiert, nichts aber riskiert und erlebt wird.
HG Olaf

19. Jan 2021

Lieber Olaf,

vielen Dank. Dein heutiger Aufruf, fleißig
Gedichte zu lesen, hat mir gut gefallen.
Sehr nett gereimt. Hab auch dafür Dank.

LG Gherkin

19. Jan 2021

Frau Krause HASST Venedig - schwer!
Ja - wenn das Wasser BIER da wär ...)

LG Axel

20. Jan 2021

Ich sagte es schon andernorts: Deine Phantasie ist geradezu ausufernd!

20. Jan 2021

Ich trete gern über meine Ufer.
Du ahnst ja nicht, was sich in
meinem Schädel abspielt. Für
Außenstehende muss das ein
Panoptikum des grenzenlosen
Wahnsinns sein. Gut nur, dass
ich keinem Zutritt gestatte. Ich
grüße Dich herzlich,

Gherkin (Das Absurde reizt dich,
gib´s nur zu!)

20. Jan 2021

Etwa nach dem Motto:"Du willst es doch auch ...!" (suggestiv geraunt)?
Nur in Maßen, nicht in Massen, Gherkin, die Dosis macht's.
Ich befürchte, ich erahne die Ausmaße deines inneren Panoptikums.
Du könntest vielleicht Freude am Studium folgenden Textes haben:
https://beatasievi-salon.com/2018/03/28/gespraech-mit-dem-stein-oder-die-erfahrung-der-ohnmacht-in-beziehungen/

07. Feb 2021

Liebe noé,

wie richtig Du doch gelegen hast: In der Tat sind die
Gespräche mit dem Stein sehr ungewöhnlich, die
haben mich nicht nur zum Nachdenken gebracht,
sondern auch begeistert. Vielen Dank für diesen
Hinweis.

Große und leere Säle – sagt der Stein – aber ohne Raum...

Grüße Dich herzlich.

Gherkin

24. Jan 2021

Doch eines ist wohl sonnenklar,
dass Liebe stets nur wunderbar,
da zählen nicht die Jahre dann
und auch egal wie es begann.

Man könnt' vorab schon wer mit wem -
denn selbst auch dies wär angenehm,
wenn beide Freude an der Lust,
anstelle altagsgrauem Frust!

Ich gebe Dir auch dabei recht,
solch Liebe wär gar nichtmal schlecht,
unverbindlich und stets formell
entsprechend dem Zeremoniell,

dies wäre auszuwähl'n zuvor,
dass man nur nicht die Lust verlor,
denn wenn die erst einmal abhanden,
dann wieder andere einfanden...

Noch einfacher beim Cybersex,
klappt es mal nicht, s'wär verhext,
selbst virtuell clean von der Stange,
wär man direkt, würd keinem bange.

Doch sollt ein bisschen auch Gefühl
'ne Rolle spielen, aus Kalkül,
dies wäre vorher zu bedenken,
wenn zwei sich innig Wortwahl schenken!

In diesem Sinne lieber Gerd, mit augenzwinkernd scharfen Grüßen in Deinen Abend hinein...
Uschi

07. Feb 2021

Liebe Uschi,

willst Du diesen "Kommentar" in Reimform
nicht vielleicht auch als Beitrag posten?
Ich fand ihn wundervoll. Und danke sehr
herzlich für diese umfangreiche Anmerkung,
die mir ausnehmend gut gefallen hat. Mit
den besten Grüßen,

Gherkin

07. Feb 2021

Lieber Gerd,

danke für die Anregung doch fehlt ein bisschen der Zusammenhang vielleicht... beim nichtkundigen Leser ;-))
Du bringst mich jedoch auf eine ganz andere Idee - wie wäre es ein 'Gemeinschaftswerk' zu erstellen...?
An mir sollte es nicht liegen!

Mit herzlich lieben Grüßen in Deinen Sonntagnachmittag,

Uschi

10. Feb 2021

Liebe Uschi,

ja, sehr gern. Gib ein Thema vor und wir zwei versuchen
uns dann dran. Du bist bei der Lyrik im Vorteil. Ich wäre
also angetan von einer Prosa-Idee. Die soll von Dir, nur
von Dir kommen. Ähnliches hatte ich schon mal mit 2
Herren, da schrieb ich noch auf e-stories. Es kam drei
Mal zu einem "Dreier". Sehr erbaulich und erfrischend.

Also, zu Deiner Frage: Sehr gern. Zeit vorhanden, die
Idee höre ich von Dir. Groetjes von Gerd

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