Liebesbrief

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Jahrtausende wurde es geheim gehalten, was man auf der Spitze des Berges Ararat gefunden hatte. Zwischen versteinerten Holzbohlen wie von einem Schiff oder Spanten von einem gigantischen Kahn lag ein Objekt, das nicht in die Zeit passen wollte, auf die die Holzreste datiert worden waren. Eine glasähnliche Kapsel mit einem zusammengerollten Inhalt. Aus welchem Material genau dieser bestand, konnte die Wissenschaft nicht eruieren. Eines nur: Es war in einem exzellenten Zustand und wer es auch las, hatte keine Schwierigkeiten, es zu verstehen.

In einem war man sich sicher, es war ein Brief. Aber da nicht sein konnte, was nicht sein durfte, kam er in die Geheimarchive des Landes, dem der Fundort bei dieser Expedition zugeordnet wurde und "verschwand" darin. Schließlich konnte man nicht riskieren, die Welt in Aufruhr zu versetzen.

Sich der Tragweite bewusst werden, konnte man in neuerer Zeit allerdings weitere Expeditionen in dieses Gebiet verbieten, was man auch tat. Es ging nicht an, dass möglicherweise noch weitere Briefe gefunden würden, die das Welt-Equilibrium stören könnten, darin waren sich Geheimdienste wie auch die Militärs einig.

Aber ein Whistleblower aus den eigenen Reihen sorgte kurzfristig für einen Skandal, als er den Inhalt der Glaskapsel veröffentlichte. Er wurde mit dem Bann belegt und verschwand in der Versenkung, bald krähte kein Hahn mehr nach ihm. Zum Glück war es den Verantwortlichen gelungen, durch viele weltweit zeitgleich inszenierte Terror-Gemetzel, Kriegsschauplätze, Hungersnöte und Epidemien die Aufmerksamkeit der Bevölkerung und der Presse wieder abzulenken.

Jedoch, wer es gelesen hatte, dieses seltsame Schriftstück, konnte seitdem ein inneres ungutes Gefühl nicht unterdrücken und hatte für den Rest des eigenen Lebens keinen ruhigen Schlaf mehr.

Wenn Sie neugierig genug sind, lesen Sie. Aber seien Sie sich der Folgen für Sie bewusst:

„Oh, ihr Gläubigen alle, meine schmerzlich geliebten Kinder …

Obwohl ich das Ende sehen kann, gebe ich die Hoffnung nicht auf. Schließlich habe ich euch doch das kostbare Gut der freien Willensentscheidung auf euren Weg mitgegeben und auch das Material, das euch dazu verhelfen soll, euer Gehirn, und es mit dem Herzen verknüpft, damit ihr spüren könnt, was euch guttut und dieses anstrebt.

Und ich habe euch gesagt, ihr sollt euch kein Bild von mir machen. Dennoch tut ihr es immer und immer wieder, sogar in euren Gedanken. Und dabei vergesst ihr, dass jeder Maler eine andere Pinselführung hat, jeder Zeichner einen anderen Stift, jeder von euch eine andere Vorstellungskraft.

Warum, meine geliebten Kinder, meint ihr, habe ich euch Propheten gesandt, Verkünder, Beter, Heilige, Engel, Retter, wie auch immer ihr sie nennen mögt?
Ihr hört ein Wort – und malt ein Bild. Gebt es auf, ich bin zu groß, ihr könnt mich nicht erfassen. Jedes Bild, das ihr malt, wird unvollkommen sein, MUSS unvollkommen bleiben, ich bin zu groß. Seht euch das Universum an, diesen kleinen Krümel meines Schaffens.

Ihr tastet euch heran, das ist gut. Ihr kommt mir näher, das ist so gewollt. Und dann wieder entfernt ihr euch von mir in Riesensprüngen. Von euch aus gesehen.

Ich liebe euch alle, wie ihr da seid, ihr seid alle meine Kinder. Wenn auch manche, weil sie erkennen, dass sie mich nicht erkennen können, sagen, es gebe mich nicht. Wenn auch manche in mir das unfassbare Nichts sehen – ich liebe euch, glaubt es mir einfach.

Aber da ich ja weiß, wie euer forschender Geist agiert, habe ich euch Erklärungen meiner Absichten geschickt und sie in für euch lesbaren Büchern zusammengefasst. Darin könnt ihr mit euren Begriffen lesen, wie sehr ich euch liebe und wie nachsichtig und barmherzig ich mit euch bin, wenn euer Tun, zu dem ihr euch entschließt, mich auch immer wieder schmerzt.

Meine geliebten Kinder, ich meine es gut mit euch. Aber ich weiß, dass ihr nur stückweit lernt. Das ist in Ordnung so. Darum erkläre ich euch gerne und immer wieder: Vertraut mir, lehnt euch an mich an, lasst euch führen, seid auch ihr barmherzig miteinander, geht einander nach und seid euch nahe, sucht den kranken Nachbarn, auf dass auch er erkennt und nicht weiter versucht, euch zu provozieren durch seinen Müll vor eurer Tür.

Geht auf einander zu und lernt, euch selbst zu vergeben. Versucht nicht, euch ein Bild von mir zu machen, es wird nicht stimmen. Ich bin mehr. Aber denkt nicht, dass je irgendein Bild von mir, das ihr dennoch malt, mich oder meine Gesandten stören könnte!

Wenn ich sage: „Macht euch kein Bildnis von mir!“, dann ist das zu eurem Schutz, nicht zu meinem. Ihr könntet verzweifeln daran, dass ihr mich nicht erfassen könnt, niemals jedoch, meine Geliebten alle, könntet ihr mich oder meine Gesandten beleidigen durch euer Stückwerk, eure Mosaiken. Zu eurem eigenen Schutz und Wohl sage ich: Lasst es sein!

Wenn ihr euch doch nur selbst vergeben könntet!

Seid barmherzig miteinander, wie auch ich barmherzig bin mit euch, meine geliebten Kinder!
Spürt dem nach, was ich euch ins Herz lege und handelt danach: Ich liebe euch alle, wie ihr da seid!

Ich bin der 'Ich-bin-da', der All-Erbarmer“

© noé/2015 Alle Rechte bei der Autorin
Hinweis für Allergiker: Achtung! Kann Spuren von Satire und Wahrheit enthalten!

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Kommentare

21. Jan 2015

Ich bin sowieso ein Fan von solchen Geschichten, aber was mich am Meisten beeindruckt sind die Zeilen des Briefes. Gewagt finde ich die Erwähnung des Leids auf der Welt, das nur zur Ablenkung dienen soll. Ich denke jedes steht für sich.
Sonst wieder toll geschrieben. Ich denke mir die Geschichte weiter, sie lädt dazu ein.

Viele Grüße

21. Jan 2015

Das ist schön, Giulia. Vielen Dank für Deinen Kommentar ...

21. Jan 2015

Der Liebesbrief kam sehr gut an!
(Schön, dass man ihn lesen kann...)
LG Axel

16. Feb 2017

Beim Lesen hatte ich es schon geahnt:Kein menschliches Wort,in welcher Sprache auch immer,kann den göttlichen Adressaten, in seiner ganzen Liebe zu uns,erfassen!