Lug und Trug, die beiden eineiigen Unterschiede, gingen in der Regel getrennte Wege. Aber jeden Donnerstag trafen sie sich am Debattiertisch im Hinterzimmer des Ausschanks einer recht bekannten Zusammenbrauerei. Dort legten sie sich knifflige Fragen aus fast allen Bereichen des Möglichen vor. So fragte letzten Donnerstag Lug den Trug: "Welches ist der wahre Fisch?"
Trug spielte, wie immer bei einer von Lug aufgeworfenen Fragestellung, den Verblüfften und schlug, scheinbar unachtsam, wie man in Momenten tiefer Ratlosigkeit sich eben oft verhält, mit der flachen Hand in eine Bierlache auf dem Tisch, so geschickt, dass nur Lug die Spritzer abbekam. Dann nahm er, um etwaige Revancheakte seitens Lugs zu unterbinden, eine grübelnde Haltung ein. Denn das Grübeln gilt dort als heilig und darf keinesfalls gestört werden.
"Der wahre Fisch ...", wiederholte Trug wie in Gedanken, die er sich aber nicht im Geringsten machte. Wozu auch? Ihn interessierte die Antwort nur wenig, er würde sie ohnehin zur Kenntnis nehmen müssen, falls er nicht sofort aufstand und aus dem Raume rannte, wozu er aber noch weniger Lust verspürte. Darum murmelte er nach angemessener Pause: "Sollte es der Hering sein, oder doch eher der Tintenfisch, der Kabeljau womöglich ... Nein, ich komme nicht drauf. Sag du es mir."
"Der wahre Fisch ist der Wal", sagte Lug, nach einem Zug aus seinem Krug.
"Der Wal ist ein Säugetier!" protestierte Trug.
"Das ist richtig, aber die Säuger stammen von denjenigen Fischen ab, die schließlich an Land gegangen sind. Doch ist der Wal freiwillig zum Fischdasein zurückgekehrt, hat auch wieder Fischform angenommen. Nur die Lungenatmung erwies sich als irreversibel. Er ist also Fisch aus Neigung und nicht bloß, weil er es, wie die Kiemenatmer, die im Wasser blieben, nicht anders kennt. Deshalb ist der Wal der wahre Fisch."
"Das leuchtet mir ein", sagte Trug und hatte wieder einmal genug vom Donnerstagabend mit all seinem hohlen Geschwätz, stellte jedoch eine Gegenfrage, bevor Lug oder der Kellner mit den frischen Halben seinen Überdruss bemerken konnten. Schließlich war der sein genetisch Nächster und der Kellner würde auch diesmal kein Trinkgeld bekommen.
"Was ist der wahre Dosenfisch?"
Lug verzog angeekelt das Gesicht. Allerdings nur inwendig, rein äußerlich blieb er das Interesse selbst. 'Wie kann jemand, der nicht einmal weiß, welches der wahre Fisch ist, sich anstehen, eine Antwort auf diese weitaus schwierigere Frage wissen zu wollen', dachte er, und lächelte devot dabei, um, nur für den Fall, daß Trug seine Gedanken lesen konnte, dem in ihm ob dieses Befundes aufkeimenden Unwillen, die Spitze zu nehmen.
"Was lachst du mich so von unten her an? Weißt du nun die Antwort, oder nicht?" fragte Trug mit der Ungeduld eines, der glaubt, ihm läge ein prächtiges Wissen auf der Zunge.
"Sollte ein Fisch den Drang verspüren sich eindosen zu lassen?" fragte Lug, weil er noch ein wenig auf der eigenen Antwort herum reiten wollte, streng rhetorisch zurück. "Das kann ich nicht glauben, da die Dosen lange nach den Fischen entstanden und eine apriorische Neigung mir generell kaum, und zu diesem Behältnis überhaupt nicht vorstellbar ist."
"Zugegeben, die meisten Wahrheiten wenden sich an ein 'Du' ", antwortete verdrießlich Trug, der nun das wechselseitig stets befürchtete Desinteresse des Befragten am eigenen Leibe zu spüren bekam.
"Außer in der Fabel," versuchte Lug, dem Gespräch einen anderen Verlauf zu geben. Er kannte Trugs Leidenschaft für Fabelhaftes aller Art. Und an Tierfabeln war die Welt ja so reich, denn Tierfabeln hatte so gut wie jeder verfaßt, der nur irgend zum Verfassen im Stande war.
"Gerade in der Fabel, dort vor allem! Die Fabel ist das universellste Transportmittel der Wahrheit zu jedem möglichen 'Du'!" rief Trug, bereits im Begriffe, sich für dieses Thema zu erwärmen.
'Geschafft!' frohlockte, selbstredend nur innerlich, Lug. Und er sollte recht behalten. An diesem Abend kam das Gespräch nicht mehr auf den 'wahren' Dosenfisch zurück. Und an den folgenden Donnerstagen hatte die Hure Welt schon wieder derartig viele frische Neuigkeiten geboren, dass die Frage nach ihm auch niemals mehr aufgeworfen wurde.