Todesstrafe

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Ich muss wie hypnotisiert auf ihr Dirndldekolleté gestarrt haben, denn ihre Stimme sagte plötzlich: Wenn Sie sich satt gesehen haben, würde ich gerne bei der nächsten Station aussteigen. So ertappt konnte ich nur noch „schade“ hervorbringen, während meine Augen ihr Gesicht suchten und sie sah offensichtlich auch erst jetzt mein Gesicht richtig an.
Entschuldigung, zur Oktoberfestzeit geraten wir Männer, animiert durch angenehme Einblicke in eine Art Ausnahmezustand, in Verwirrung sozusagen, haben sie Nachsicht und halten sie mich nicht für einen Sittenstrolch, Verzeihung. Übrigens, da fällt mir plötzlich auf, –ja, kann es denn sein? – dass wir uns schon einmal begegnet sind?
Ihre Augen reagierten spontan, genau so wie wenn einem die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen fallen, ihr Zeigefinger richtete sich plötzlich auf mich und mein Zeigefinger zeigte auf sie, die entzückt Schooopenhauer! ausstiess und ich ergänzte Schuuumann und Aaabsolutes Gehööör! und wir lachten laut und herzlich, in dem durch die herunter geklappten U-Bahnfenster hereindringenden, polternden und quietschendem Bremsenlärm, beim Einfahren in den U-Bahnhof. Vor zwei Jahren oder vielleicht länger, hatten wir uns zufällig auf einer Busfahrt kennengelernt und hatten eine sehr interessante Konversation über Philosophie und Musik miteinander.
Bevor ich auf unser damaliges Zusammentreffen zu sprechen kommen konnte, stand sie abrupt auf und meinte: Sorry, ich habe leider keine Zeit. Ein beruflicher Termin mit einem Kollegen, verstehen Sie? Ohne weiteren Gruss drängte sie sich zum Ausgang und verschwand unter anderen Fahrgästen im U-Bahnhof. Mein Wann sehen wir uns wieder? hatte sie nicht mehr erreicht.
Plötzlich wurde mir klar, dass ich sie nicht einfach davon gehen lassen will. Ich sprang auf, rempelte mich zwischen einigen Leuten hindurch, wollte gerade noch durch den Ausgang springen, als die Türflügel unter Ertönen eines tutenden Warnsignals zu rasteten. Ich trommelte mit den Fäusten gegen die Tür und schrie völlig durchgedreht: Diesmal nicht! Nein, diesmal nicht. Nicht! Nicht!
In meiner Aufregung entging mir, dass sich zwei mächtige Lederhosen-Urbayern mit Wadlstutzen an und Trachtenhüten auf, mit ihren Bierbäuchen bedrohlich eng an mich herangeschoben hatten. Geradezu eingekeilt haben sie mich zwischen ihre Ranzen. Immer schön ruhig bleibn, verstehst scho?, sagte einer, während der mit dem hochgezwirbelten Schnauzbart mich mit seinem Bauch schupste. Ich erklärte ihnen, dass ich bei der nächsten Station aussteigen wolle und dass ich kein Interesse an einer Auseinandersetzung mit ihnen hätte. Sie sagten, dass sie das genau so sähen und dass ich vernünftig wäre.
Zurück zur letzten Station, wo sie ausgestiegen ist. Ich muss sie finden. Warum muss ich sie finden? Sie ist doch eine verheiratete Frau. Eine Musikerin, spielt Querflöte in einem Orchester, meine ich mich zu erinnern. Sie hatte mir angeboten, sie auf einer Amerikareise zu begleiten, weil ihr Mann erkrankt war und sie im Familienkreis niemanden gefunden hatte, der mitfahren konnte. Ausserdem hatte sie Bedenken, weil sie das Englische nur sehr mangelhaft beherrsche, eigentlich gar nicht beherrsche, sagte sie damals.
Natürlich ist sie in ihrem Dirndl Outfit zur Festwiese gegangen, denke ich und wenn sie sich nicht nahe dem Eingangsbereich verabredet hat oder aufhält, dann wird es schwer sein sie zu finden. Wo könnten sich Musiker wohl verabreden, frag ich mich? Vielleicht nicht in einem Bierzelt. Schon eher in oder bei einem Weinzelt. Ich steuerte auf den Eingang zur Wiesn zu und entschied mich langsam in gerader Linie weiter zu gehen bis hin zur Bavaria-Statue. Von dem erhöhten Standort aus könnte ich dann einen Überblick gewinnen.
Zuerst aber auf dunkles Mieder, rubinrote Schürze, weisse Bluse konzentrieren, sagte ich mir. Dann das Dekolleté und dann erst das Gesicht, sagte ich mir. Alles ausblenden, was nicht in dieses Raster passt. Keine Männer ansehen, deswegen doch zuerst das Dekolleté und dann die Mieder und Schürzen und Gesichter. Schwarze, nackenlange Haare noch vor den Gesichtern erkennen. Zufällig, in die alle Richtungen sehen. Zufällig, in die richtige Richtung gehen. Zufällig auf sie treffen musste ich.
„Na sowas, sie schon wieder“ hörte ich plötzlich eine Stimme, ihre Stimme. Haben Sie mich vielleicht verfolgt? Sie sind ein übler Stalker! Wenn hier jemand stalked, dann sind Sie es, gnä Frau, weil Sie nach mir gekommen sind. Und wenn Sie meine Einladung auf eine Maß oder ein Weinchen ablehnen, dann rufe ich die Polizei, weil Sie schon zwei Jahre lang hinter mir her stalken!
Sie setzte sich neben mich auf die Treppenstufe und schaute wortlos über das Gelände.
Nach einer Weile sagte ich, also, stalken wir nach einem Maßerl?. Sie war einverstanden und wir fanden überraschend schnell Platz in einem Biergarten bei einem Zelt. Dann erzählte sie, dass der Kapellmeister mit dem sie sich getroffen hatte nun doch keine Flötistin braucht und dass sie eigentlich froh sei, nicht in einer Blaskapelle im Bierzelt spielen zu müssen, denn an der Musik habe sie sowieso kaum noch Interesse.
Als wir mit unserer frischen Maß anstoßen wollten, sagte ich zu ihr: Sie sollten mir jetzt aber schon verraten, mit wem ich das Vergnügen habe. Wie heißen Sie denn? Ich heiße Irmhild, sagte sie bestimmt, und sie? Ich bin der Mathias Oh shit! Matthew, platzte es aus ihr heraus. Ich war etwas konsterniert und fragte, was denn so schlimm sei an Mathias oder Matthew. Nichts, absolut nichts ist schlimm, sagte sie mit verneinendem Kopfschütteln.
Als wir einen kräftigen Schluck von dem frischen Bier getrunken hatten, setzte sie den Maßkrug ab und sinnierte: „Nichts ist schlimm, alles ist schlimm, ich bin schlimm, Sie sind schlimm. Sie sind ein Spieler, das haben Sie mir damals erzählt, ich erinnere mich genau. Sagen Sie mir, was ist so interessant am Glücksspiel? Gehören Glück und Unglück nicht zusammen, wie die zwei Seiten einer Medaille?
„Beim Roulettspiel spricht man eher von Pech und nicht von Unglück“, erklärte ich ihr, zugleich forderte ich sie aber auch auf, das Glück mit einer frischen Oktoberfestmaß nicht gering zu schätzen und wir tranken wieder einen kräftigen Schluck. Einen Obstler hätte sie so lange nicht mehr gehabt und sie hätte jetzt, durch den Geschmack des frischen Bieres, richtig Lust auf einen herzhaften, rassigen Obstler bekommen, sagte Irmhild. Natürlich erfüllte ich ihr den Wunsch sofort und wir prosteten uns zu. Auf dein Wohl, Irmhild! Auf

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