Erinnerungen an Else Lasker-Schüler

Bild von Carl Stern s.A.
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Der antifaschistische Dichter und Publizist Louis Fürnberg lud mich Anfang Juni 1942 zu sich nach Jerusalem ein und führte mir das Jerusalemer Dichter-Panoptikum vor. Die unglaublichsten Käuze und Gestalten kamen da an, und jeder schien von seiner Dichter-Aureole überzeugt. Unter anderem gab es den schleimigen Poeten Manfred Vogel und seinen Busenfreund Franz Goldstein, der sich kurz Frango nannte. Das Treffen mit Frango war nicht ohne Absicht. Er war mit der Lasker-Schüler befreundet und sollte mich bei ihr einführen.

Er brachte uns auch in ihre Behausung. Sie "hauste" wirklich: in einem ärmlichen, muffigen Zimmerchen und - wie ich erfahren hatte - in einer unglaublichen Notlage. Doch niemand ihrer zahlreichen Freunde, die ihr helfen wollten, ließ sie daran rühren. Das Zimmerchen war vollgestopft mit dem abenteuerlichsten Krimskram, zumeist düster leuchtender, billiger Tand: silbern und golden glitzernde Kettchen hingen herunter, schillernde Perlenschnüre, gemalte Tellerchen mit phantastischen Bildern, bunt glänzende Vasen.

Ich hatte Else Lasker-Schüler während ihrer Rezitationsabende in Haifa gehört, und zwar bei den beiden Großhuts, die solche Veranstaltungen für die "notleidenden Künstler Palästinas" veranstalteten. Sie las wunderbar. Ich entsinne mich eines Gedichtes: "Josef wird verkauft". Während sie las, hatte sie unter dem Tisch auf den Knien ein kleines Säckchen mit bunten Steinen bereit. Wenn sie zu der Stelle kam, an der Josef verkauft wird, schüttelte sie leise und rhythmisch das Säckchen. Es klang melodisch, wie weit entfernt in der Wüste. Man hatte die Empfindung von weichen Kamelschritten durch den Sand, von den umgeschnallten, leise rasselnden Lasten, und man wusste, dass Josef jetzt für die klingende Münze verkauft wurde.
Und nun saß sie leibhaftig und ganz nahe vor mir. Das heißt, sie thronte, in einem riesigen, gedrechselten Sessel verkauert und - sprach kein Wort, wie in sagenhafte Fernen entrückt. Sie hatte eine graue Pelzmütze auf, die trug sie sommers und winters. Mitten in der Mütze prangte ein türkisartiger, großer Edelstein. Sie hockte da, mit ihrem zerfalteten Krötengesicht, zu dem dieser Stein wunderbar passte. Es fiel einem unweigerlich die Mär von der Kröte und ihrem Edelstein ein. Die Lasker-Schüler schwieg weiter, nur ihre großen Traumaugen wanderten von einem zum anderen. Der Einzige, der ununterbrochen redete, war Frango. Mitten in einem Satz brach er ab und gab uns einen schnellen, scharfen Wink, das Zimmer zu verlassen. Draußen brummte er etwas, dann kehrte er zu ihr zurück.

Nachmittags überbrachte er mir ihre Einladung zum nächsten Vormittag mit Ort- und Zeitangabe. Er bat mich pünktlich zu sein. Fürnberg erzählte mir einige Anekdoten über sie. Da gab es in Jerusalem einen Dichter, ich glaube, er hieß Goldmann. Der lud sie eines Abends in das Kino ein. Nun handelte es sich um einen etwas nervösen Herrn, der während der Vorstellung ständig mit den Knien zuckte und ein- oder zweimal die Lasker-Schüler anstieß. Plötzlich sprang sie auf und schrie durch den ganzen Saal: "Vergreifen sie sich nicht an einer ehrbaren Frau!" und schon hatte sie fluchtartig das Kino verlassen. Weiter berichtete er ein Erlebnis, das er selber in früherer Zeit mit ihr hatte. Es war in Prag und die Lasker-Schüler zu Besuch dort. Eines Nachts stand sie neben dem alten Rathaus, vertieft in den Anblick des St. Veits-Domes. Nur eins störte sie: gerade vor dem Dom patrouillierte ein Polizist. Sie fuchtelte mit ihrem Schirm und versuchte ihm durch Gesten klar zu machen, dass seine Anwesenheit störe. Als das nichts half, rannte sie kurzentschlossen über den Platz, ihren Schirm schwingend. Eigenhändig verprügelte sie den Schutzmann ... Und wieder in Jerusalem: Ein paar junge Dichter gaben eine literarische Zeitschrift heraus. Eines Morgens kam die Laske-Schüler angerast und zückte ein noch tintenfeuchtes Manuskript. "Mein letztes Gedicht!" stieß sie atemlos hervor, warf es den verdatterten Leuten auf den Tisch und verschwand. Man druckte es ehrfürchtig. Und später stellte sich heraus, dass es sich um ein uraltes Gedicht handelte ...

Nächsten Tag, Punkt elf Uhr: Else Lasker-Schüler war zur Stelle. Ein kurzer, prüfender Blick: "Irgendwie werden wir uns schon unterhalten!" Natürlich hatte sie mir meine Hemmungen vom Gesicht abgelesen. Was tat sie? Sie schleppte mich einfach auf ihrem "Rundgang" mit sich und führte mich bei ihren Freunden und Bekannten ein: "Carl Stern, Dichter aus Haifa." Während dieser Besuche führte sie pausenlose Monologe. Worüber sie sprach, lässt sich schwer wiedergeben. Sie sprang beständig von einem Thema ins andere. Immer wieder wechselte sie von einem Ort zum anderen, aus einer Zeit in die andere. Länder wechselten. Aus Dominikanermönchen wurden plötzlich reisende Teufel. Immer wieder begann sie mit etwas Tatsächlichem. Dann aber fing ihre Phantasie zu schillern an. Und schon war sie von heutigen Bekannten in Jerusalem - im Berlin des Jahres 1913, durch das ein faszinierender Tanz von Indianern wogte. Dann wieder verbeugte sie sich in einem Kaffernkral - in China. Was sie in buntester Phantasie aus sich heraussprudeln ließ, war verrückt, aber unverständlicherweise hatte es eine Logik bei aller scheinbaren Irrealität. Es zog an und erregte wie ein magisches Geheimnis. Später ging es mir mit ihren genialen Gedichten oft nicht anders.

Als ich Fürnberg meine Ratlosigkeit ob ihres herumwirbelnden Erzählens schilderte, sagte er: "Das ist nicht so ganz ungewollt! Viel davon ist mit Bedacht inszeniert!" Erstaunlicherweise verabredete sich die Lasker-Schüler für den Abend des gleichen Tages mit mir. Das erstaunte mich umso mehr, als ich während der ganzen Zeit nichts anderes als einen stummen Statisten abgegeben hatte. Und zum folgenden Abend lud sie mich zu ihrem "Kraal" ein. Der "Kraal", das war eine nur für Auserwählte gehütete Einrichtung. Was dieser "Kraal" wirklich war und wo er sich befand, in einem Haus in Jerusalem oder ganz einfach in ihrer Wohnung, wusste ich nicht. Kaum konnte ich fassen, dass ich dieser großen Ehre teilhaftig geworden war. Aber es muss nur einer ihrer unberechenbaren Impulse gewesen sein, mit denen sie - ohne Ansehen der Person - ihre Umwelt schockierte.

Abends, wieder auf die Minute pünktlich, traf Else Lasker-Schüler am Verabredungsort ein. Diesmal ging es in ein Restaurant, wo sie schon von ihren Freunden erwartet wurde. Andere Freunde, ein anderes Milieu. Kaum dass sie saß, war sie schon wieder in ihren phantastischen Monologen. Nun störte es mich, dass ich ständig an Fürnbergs Bemerkung denken musste. Ich versuchte zu entdecken, wie sie ihre abenteuerlichen Schilderungen konstruierte.  Doch bald geriet ich wieder in den Zauberbann ihrer Phantasie. Das Großartige ihrer Wahnbilder ließ mich erschauern und mitschwingen. Diesmal sprach sie von Hottentotten und Engeln. Der Schauplatz war Jerusalem in Deutschland. Sie bestellte sich eine einfache Suppe. Als sie gebracht wurde, kam sie aus Tibet zurück, wo sie sich gerade mit dem Dalai-Lama unterhalten hatte. Sie kramte in ihrer Tasche, zog schließlich ein rohes Ei heraus und schlug es bedächtig in die Suppe. Als wir aufbrachen, machte sie plötzlich Kehrt und verschwand ...

Ich bin nicht im "Kraal" gewesen.

Zur vereinbarten Stunde saß ich statt im Kraal im Jerusalemer Gefängnis. Es war die Folge meines Herumstehens in der Altstadt: ich machte Notizen in mein Heft, die Grundlage für spätere Gedichte. Das erregte den Argwohn zweier baumlanger englischer Polizisten. Sie fragten nach meinem Namen. Die Antwort darauf wurde mir zum Verhängnis.

"Sie heißen?" "Stern!" Nun muss man wissen, dass es damals eine jüdische Terroristengruppe, die Sterngruppe gab. Gegen den Namen "Stern" waren englische Polizisten allergisch. Ich wurde sofort verhaftet und wanderte ins Altstadtgefängnis. Deshalb konnte ich nicht in den Kraal der Else Lasker-Schüler gehen.

Drei Jahre später ist Else Lasker-Schüler gestorben.

Sie wäre buchstäblich verhungert, behauptete Fürnberg. Nicht dass ihre Freunde sie im Stich gelassen hätten. Ganz im Gegenteil. Aber an ihre Not hatte sie keinen herangelassen.

Veröffentlicht / Quelle: 
SILHOUETTE Literatur - International; No.8/1981