Shitstorm ...

Bild von Annelie Kelch
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Herbst –
Heimlich wächst er in die Zeit des
Ins Vergessen fliehenden Sommers:
Gestrichene Stunden, verkürztes Leben ...

Das kälter gewordene, trübere Licht
Weckt den Gott des Verfalls und am
Abend raffe ich mir die wollene Jacke
Über Kreuz um den fröstelnden Leib.

Mein Schlafdeich öffnet sein grasgrünes Aug,
Rülpst und lächelt zufrieden: Verdaut sind
die Sandsäcke in den Löchern seines hungrigen
Wanstes, und die ,Großen Brennnesseln' faulen
Wie verschmähtes Obst und kribbeln nicht mehr.

Morgen, ach morgen schon werden toben
Poseidons Stürme, Wellen zu peitschen
Gen Menschland: Längst zittern die ärmsten
Hütten der Welt.

Nicht länger zerbricht der Glasaal an des
Hungerbachs Schroffheit: Aus den Wolken
Stürzen Liliths dämonische Tränen ...

Im Büchsenlicht spannt Diana ihren Bogen,
Hirschfänger und Saufeder: blanker gewetzt als
Die Waffen der Keiler. Vorbei ist die Hegezeit;
Nichts wird mehr geschont ...

Nichts wird mehr geschont; auch wir werden
Fallen aus der gestundeten Zeit, unserm
Scheinbaren Frieden; vom speed in den
Shit und vom shit in den shitstorm getrieben,
Vom Tod in den Traum: So lebten wir einst ...

Erklärungen, falls etwas unklar sein sollte:
Schlafdeich: alter Deich, der durch neuere Deiche ersetzt wurde, aus Sicherheitsgründen aber weiter unterhalten wird
Poseidon: röm. Gott der Winde, Stürme und Meere
Glasaale: blutjunge Aale
Hungerbach: ein Gewässer, Fluss, der wenig oder gar kein Wasser führt
Lilith: im jüdischen Glauben Adams erste Frau, die ihn verließ und zum Dämon wurde
Büchsenlicht: ausreichendes Licht für die Jagd in der Morgen- oder Abenddämmerung
Hirschfänger: Jagdmesser
Saufeder: Spieß als Waffe bei der Wildschweinjagd
Waffen der Keiler: Eckzähne der Keiler, Waffen genannt
Speed: Aufputschmittel, Shit: Marihuana, Betäubungsmittel
Shitstorm: zusammengesetzt aus englisch shit „Scheiße“ und storm „Sturm“ bezeichnet im Deutschen das lawinenartige Auftreten negativer Kritik gegen eine Person oder ein Unternehmen im Rahmen von sozialen Netzwerken, Blogs oder Kommentarfunktionen von Internetseiten bis hin zur Schmähkritik. Der Duden definiert einen Shitstorm als „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht, der im Englischen als firestorm zeichnet wird. Der Begriff Shitstorm bezieht sich vor allem auf „Blogbeiträge oder -kommentare, Twitternachrichten oder Facebook-Meldungen“. Quelle dieser letzten Erklärung: Wikipedia.

Interne Verweise

Kommentare

10. Sep 2018

Deine nur Dir eigenen Formulierungen, ich liebe sie, Du kreative Anne Li. "Nicht länger zerbricht der Glasaal an des Hungerbachs Schroffheit: Aus den Wolken stürzen Liliths dämonische Tränen" ... ein überaus gelungenes, locker fließendes Gedicht ...

herzliche Grüße zu Dir - Marie

10. Sep 2018

Liebe Marie, für Deinen lobenden, freundlichen Kommentar danke ich Dir ganz herzlich. Weißt Du, ich hatte nämlich befürchtet: Ach, die Marie, die schreibt morgen, wenn überhaupt, gewiss: Schon wieder so ein negatives Herbstgedicht im Traklsound ohne Hoffnung und Licht. Aber unser Leben hier ist leider nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Oft muss man sich sein kleines Glück mühsam suchen und erkämpfen, und wenn dann noch ein shitstorm über einen hereinbricht, möchte so mancher mit dem Leben abschließen. Deshalb bin ich über Deinen Kommentar sehr erleichtert.

Liebe Grüße,
Annelie

10. Sep 2018

Herbst isr auch dunkel, Annelie, auch der des Lebens, aber "Mein Schlafdeich öffnet sein grasgrünes Aug, rülpst und lächelt zufrieden: Verdaut sind die Sandsäcke in den Löchern seines hungrigen Wanstes" - das finde ich einfach herrlich deftig und ganz undüster ...

liebe Grüße - Marie

10. Sep 2018

( :- ))), danke, liebe Marie,

liebe Grüße,
Annelie

10. Sep 2018

Liebe Annelie, Bild und Gedicht sind wunderbar und ergänzen einander phantastisch. Diese Stimmung... marode, morbid und doch irgendwie...irgendwie so, dass man den Mantelkragen hochklappt und sagt: Ja. Du kannst ES. DU KANNST DA DURCH

So einen Schafdeich haben wir übrigens auch. Kinder und Hündchen lieben ihn. Danke für den Zusatz mit dem Büchsenlicht, das hätte ich nicht gewusst.
"Vorbei ist die Hegezeit, nichts wird mehr geschont". Oh weh!
Vor allen Dingen oh weh, wo du die Hetzjagd in das Thema Shit storm rüberziehst...
oh weh.

Aber wir können den Mantelkragen hochklappen, den (Filter-) Schirm aufspannen und es aufnehmen, da draußen, mit den "Elementen" und sagen: WIR SCHAFFEN DAS!

Ganz tolles Gedicht, liebe Annelie, liebe Grüße von
Anouk

10. Sep 2018

Danke, liebe Anouk, für Deinen guten Kommentar, das Lob und das geflügelte Wort, das in der Welt die Runde macht: WIR SCHAFFEN DAS! - Yes, we can! - Da gab es eine Zeit ... da konnte man noch von Amerika lernen. Diese Zeit scheint endgültig dahin zu sein. So einen Schlafdeich kann man nur lieben: im Winter hinunterrodeln, im Sommer drauf rumtollen und müde werden. Butterblumen wachsen drauf, Gänseblümchen, Klee, Taub- und Brennesseln. Gestern erst las ich, wie gesund Brennesseln sind. Sie helfen gegen viele Wehwehchen. Ein wertvolles Lebensmittel - als Tee und Salat, nachdem man sie abgeschreckt hat, damit sie nicht mehr brennen. Das mit der Hetzjagd, die ich in den shitstorm rüberziehe, hast D u entdeckt; das war mir gar nicht bewusst, deshalb danke ich hier, an dieser Stelle, dass Du mein Gedicht so aufmerksam und gedankenvoll gelesen hast. Den Kragen aufzustellen - wie die Taube ihren Federkragen in dem Gedicht: Erklär mir Liebe - von Ingeborg Bachmann, ist eine gute Sache.

Liebe Grüße zu Dir,
Annelie

10. Sep 2018

Hallo Annelie,
den Herbst als schleichenden kühlen Gott des Verfalls in den ersten Strophen kann ich gut verinnerlichen.
Das folgende Aufbäumen der Natur würde ich dagegen eher den Winterstürmen zuordnen die mit kalter Wut Rache an den Menschen nehmen. Dieses durchaus nachvollziehbare Bild beruht m. M. aber auf einem vermenschlichten Naturverständnis, das ich weniger teile. Die Natur hat ihren eigenen ewigen Gang vom Werden und Vergehen, es ist u. a. der Mensch, der ironischer Weise, diesen zu seinen Ungunsten stört. Im Ergebnis kommt vermutlich das Gleiche raus, aber ich wollte Dir meine Gedanken dazu dalassen.
Insgesamt sehr eindrucksvolle und mitreißende Bilder.
LG
Manfred

10. Sep 2018

Hallo Manfred, danke für Deinen interessanten Kommentar und Dein freundliches Lob. Wir - früher - hatten im Herbst Orkane mit mal mehr, mal weniger starken Sturmfluten an der Elbe. Meine Eltern, Geschwister und ich lebten ganz nah diesem Fluss und auch relativ nah am Hafen mit Blick auf Deich, Wiesen und Wasser. Ich konnte alles ganz genau beobachten und habe oft am Fenster gestanden und mir angeschaut, wie sich die Natur unter dem Einfluss des Wetter verändert hat. Der Winter war dann, außer, dass er kalt war, weniger heftig. April und November habe ich, was das Aufbäumen betrifft, in schlimmster Erinnerung - dann kam der Sturm und die Gefahr wuchs, dass das Wasser bis an den Deich kommt. Das habe ich öfters erlebt und hatte als Kind oft Angst, es könnte über den Deich schwappen.

LG Annelie

10. Sep 2018

Annelie,
deine Wortgewalt ist so umwerfend gescheit und zugleich poesievoll,
die Wirkung von wiedersprüchlichen Empfindungen ist so interessant -
es erscheint mir fast ungehörig, einen Kommentar abzugeben,
als solle ein Biertrinker einen guten Wein beschreiben!

Aber begeistert bin ich von dem Wein und genieße ihn mit Wonne.
U.

10. Sep 2018

Danke, Uwe, für Deinen freundlich lobenden Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe. Ich habe nichts gegen Biertrinker. Unser Willi hier trinkt übrigens auch Bier, am liebsten deutsches, das er in Schweden nicht bekommt. Lies mal sein neuestes Gedicht. Er liebt auch deutschen Schinken. Ich habe ihm geraden, sich ein deutsches Schwein zu halten. Es laufen ja hier genug durch die Gegend. Da wird auch eines für Willi übrig sein. Man könnte es exportieren

Liebe Grüße und einen schönen Herbst,
Annelie

10. Sep 2018

Alles ein Kreislauf – kommen und gehen, stehen und drehen.
Wir steigern uns zum Untergang und vielleicht fangen wir danach ja wieder von vorne an …

Liebe Abendgrüße
Soléa

10. Sep 2018

Liebe Soléa, danke für Deinen guten Kommentar. Ich denke auch oft so ... dass nämlich alles wieder von vorn anfängt - mit dem Urknall; irgendwo muss die Materie ja bleiben, sie kann sich ja nicht in Luft auflösen. Nur was ergebe das für einen Sinn, immer wieder dasselbe, die neuen alten Kriege, Kinder, die sterben müssen, kaum, dass sie auf die Welt gekommen sind. Tote, Verletzte durch Gewalt. Ehrlich, ich weiß nicht, ob ich das wirklich will.

Auch zu Dir liebe Abendgrüße und eine angenehme Nacht,
Annelie

10. Sep 2018

Der Herbst,
gekürzte Tage,
Zeit der Jagd (seit jeher und von Urzeit an)
verknüpft so melancholisch
wie humorvoll unbedingt
steife Brisen,
die in das intermediale
Netz sich lenken,
und das Ganze eine Einheit
wie ein Guss

purer Anne Li Genuss!

LG Yvonne

11. Sep 2018

Danke, liebe Yvonne, Dein Kommentar hat mir ausnehmend gut gefallen, quasi eine poetische Zusammenfassung meines Textes, das intermediale Netz nicht außer Acht lassend, den shitstorm, ein Bestandteil eines neuen, außerjahreszeitlichen Herbstes, der mitunter Schäden anrichtet, die kaum noch zu beheben sind,.

LG Annelie