Loverboys , Teil 2, Fortsetzung von gestern, den 03. Dezember 2016

Bild von Annelie Kelch
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Was ich befürchtet hatte, traf ein: Das Telefon am anderen Ende der Leitung blieb stumm, als ich zu Hause anrief. Weder Sally noch meine Mutter meldeten sich. Ich versuchte es mehrmals, ließ es läuten, bis mir davon die Ohren klangen – nichts! Und was mich bedeutend nachhaltiger beunruhigte: Der Anrufbeantworter war abgeschaltet, was normalerweise so gut wie nie vorkam.
Heute weiß ich, dass ich auf der Stelle hätte nach Hause fliegen müssen.
Stattdessen fuhr ich mit dem Lift hinunter in die kleine Kellerbar, um ein Glas Wein zu trinken. Ich ahnte, nein, ich wusste, dass ich kein Auge zubekäme. Die Sorgen ließen mein Herz bis zum Hals schlagen.

Am Tresen saß ein Seminarteilnehmer, der mir während der Begrüßungszeremonie in der Eingangshalle durch sein sympathisches Äußeres aufgefallen war. Ich konnte mich sogar noch an seinen Namen erinnern: Pavel Hus. Das klang tschechisch; er sprach jedoch akzentfreies Deutsch. Ich setzte mich an einen der kleinen Ecktische, nachdem ich mir eine Flasche Rotwein bestellt hatte. Pavel kam zu mir herüber und fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe, und obwohl ich gern allein mit meinen Sorgen geblieben wäre, wollte ich ihn nicht vor den Kopf stoßen und sagte: „Gern.“

„Kummer? Kann ich helfen?“, fragte Pavel, nachdem wir längere Zeit geschwiegen hatten, und sah mich eindringlich an, und ich weiß bis heute nicht, woran es gelegen haben mag, dass sich meine Zunge löste, die ich normalerweise hervorragend im Zaum halte. Gewiss nicht am Rotwein, von dem ich lediglich genippt hatte; denn ich trank sonst nie Alkohol, allerhöchstens an Silvester mal ein Glas Sekt.
Jedenfalls verstanden Pavel und ich uns auf Anhieb, duzten uns gar nach einer Stunde, die wir angeregt verplauderten. Erst danach gab ich die Sorgen preis, die mich quälten.

„Solltest du spätestens übermorgen noch immer niemanden zu Hause erreicht haben“, sagte Pavel, „halte ich es für zwingend notwendig, dass du den nächsten Flieger nach Hause nimmst. Nach allem, was du mir über deine Tochter erzählt hast, will mir ein übler Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Wenn du möchtest, begleite ich dich zu dir nach Hause. Du bist ja vollkommen aufgelöst.“
Ich fragte lieber nicht, was für ein Gedanke das sei, der in seinem Kopf herumspukte. Es war pure Angst, die mir die Kehle zuschnürte; ich fürchtete mich vor der Wahrheit wie der Teufel vorm Weihwasser.

Als auch am Donnerstagmorgen niemand ans Telefon ging, rief ich meine Nachbarin an, die einen Schlüssel für unser Haus besaß, und bat sie, dort nach dem Rechten zu sehen. Oda lief sofort los, während ich am Telefon wartete. Meine Hand, die den Hörer hielt, zitterte wie Espenlaub, mir schwante Fürchterliches. Pavel stand neben mir, hatte einen Arm um meine Schultern gelegt.
Mir schien, ein Jahr sei vergangen, bis Oda sich endlich meldete.
„Cordula, es tut mir sehr leid, aber du musst sofort nach Hause kommen. Deine Mutter ist im Bad gestürzt, sieht ganz nach einem Unfall aus. Sie hat eine Menge Blut verloren. Vermutlich ist sie mit dem Kopf auf den Rand der Badewanne geschlagen. Ich habe einen Krankenwagen gerufen.“

„Tausend Dank, Oda“, sagte ich. „Hast du Sally angetroffen?“

„Nein, leider nicht. Vielleicht ist sie in der Schule. Allerdings habe ich den Eindruck, als sei der Sturz deiner Mutter schon ein Weilchen her. Das Blut ist bereits geronnen, fast getrocknet. Ja, wo könnte Sally nur sein? Ich weiß es wirklich nicht, habe sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen …“

„Schon gut, Oda“, sagte ich hastig. „Das klären wir, wenn ich zu Hause bin.“

Pavel und ich packten unsere Sachen und nahmen ein Taxi zum Flughafen. Der nächste Flug nach Berlin ging in zwei Stunden. Total übermüdet, setzten wir uns in die Wartehalle und dösten vor uns hin. Wir hatten uns bis in die frühen Morgenstunden unterhalten, und nachdem wir uns getrennt hatten, konnte ich vor lauter Aufregung nicht einschlafen. Pavel sagte mir, dass es ihm ähnlich ergangen sei.
Mir zitterten die Beine, als ich aus dem Flugzeug stieg. Pavel musste mich stützen. Wenigstens stand mein Auto noch dort, wo ich es am Dienstagmorgen geparkt hatte. Ich überließ Pavel das Steuer; er war der ruhigere von uns beiden, sah alles gelassener, weniger dramatisch als ich, die immer noch nicht wissen wollte, welch übler Gedanke ihm im Kopf herumging, was meine Sally betraf.

Man hatte meine Mutter in die Charité gebracht, von Sally keine Spur. Ihr Zimmer machte den Eindruck, als habe sie es seit dem Tag meiner Abreise nicht mehr betreten. Die Oberschwester machte mir Vorwürfe, weil ich meine Mutter in diesem Zustand allein zu Hause gelassen hatte. Ich müsse doch bemerkt haben, dass sie dement sei. Pavel sah mich fragend an, und ich erklärte ihm, dass im Verlag unendlich viel zu tun gewesen sei. Zwar sei mir der verwirrte Zustand meiner Muttert nicht verborgen geblieben, ich hätte ihn jedoch keinesfalls für gravierend oder gefährlich gehalten.
Als wir meine Mutter am späten Abend noch einmal aufsuchten, ging es ihr bedeutend besser, von Demenz konnte keine Rede mehr sein. Sie sprach weder wirres Zeug, noch hatte sie Erinnerungslücken.
Wir erfuhren, dass Sally am Tag meiner Abreise mit einem jungen Mann in unserem Haus aufgekreuzt sei, der in ihrem Zimmer übernachtet habe. Nick, so habe der Bursche geheißen, habe einen sehr gepflegten Eindruck gemacht und sei ausgesprochen höflich gewesen. Sie sei jedoch das Gefühl nicht losgeworden, dass Sally, die den jungen Mann geradezu angehimmelt habe, unter dessen Fuchtel stand; alles habe darauf hingedeutet, dass Sally emotional von ihm abhängig sei. Die beiden hätten das Haus am nächsten Tag gegen Mittag verlassen, seien in einem weißen Sportcoupé, das vor dem Haus geparkt habe, davongefahren – angeblich nach München, um dort seine Eltern zu besuchen. Meine Mutter konnte Sallys Freund hervorragend beschreiben. Dieser sei um die dreißig, mittelgroß und sehr schlank gewesen. Besonders aufgefallen sei ihr seine teure Designerkleidung; er habe eine braune Wildlederjacke über einem grünen Seidenhemd getragen, dazu schwarze Lackschuhe, die unter einer untadelig fallenden Gabardinhose hervorgeschaut hätten. Sallys Freund habe wie ein Dressman ausgeschaut, sagte meine Mutter.

Nach dem Krankenbesuch machten wir uns auf den Weg zum hiesigen Polizeikommissariat. Pavel hatte noch Urlaub. Er könne dem väterlichen Restaurantbetrieb, der achtzehn Angestellten Arbeit und Brot gebe, getrost noch eine Weile fernbleiben, erklärte er mir. Danach werde er sich seiner neuen Aufgabe als Chef eines Gaststättenbetriebes widmen müssen, wolle mich jedoch besuchen, wann immer er es einrichten könne. Glücklicherweise lebten wir nicht weit voneinander entfernt.

Ich erstattete noch am selben Abend Vermisstenanzeige und schilderte dem Beamten, was meine Mutter uns erzählt hatte. Der Polizist legte eine fast stoische Gelassenheit an den Tag, während ich mit zitternder Stimme zu Protokoll gab, dass Sallys Schulleiterin mir am Nachmitag erklärt habe, dass Sally schon seit drei Wochen nicht mehr zum Unterricht erschienen sei; aber selbst diese Aussage schien ihn wenig zu beeindrucken. In Deutschland würden jährlich 100.000 Kinder und Jugendliche vermisst, ließ er uns wissen. Wenigstens wollte er jemanden zu meiner Mutter ins Krankenhaus schicken, um ein Phantombild von dem jungen Mann anfertigen zu lassen.

Dritter Teil morgen, am 05. Dezember 2016