Erfüllen, was der Tag von mir verlangt,
fällt mir leicht – wenn ich an euch denke …
An euch, die ihr jahrelang in Gefangenschaft
zugebracht habt, in Verstecken gehaust oder
auf der Flucht gewesen seid – wegen eines
entsetzlichen Streits, Krieg genannt, der
verloren ging.
Auch das Schweigen, das euch auferlegt war,
habe ich gelernt – auch innerlich, auch hinsichtlich
meiner Gefühle. – Das ist gut so.
Der Faschismus brachte viele Menschen zum
Schweigen. Aber dieses Schweigen war unfruchtbar
und deshalb sinnlos.
Ich kann es nicht gelten lassen, Sándor, dass
Hitler aus einer Panik heraus diesen verheerenden
Krieg angezettelt haben soll. Sie schrieben, „Panik
sei die tiefere Ursache für Aggressionen“.
Streichen wir in diesem Fall das Wort „Panik“ säuberlich
durch und schreiben „Dummheit“ drüber: „Dummheit
gepaart mit Wahnsinn“, eine fatale, gefährliche Mischung.
Ja, ich weiß, es gibt noch immer Menschen, die …
Blättern die schlechten Seiten einfach um, Sándor.
Ganz so unfruchtbar war dieses Schweigen jedoch nicht:
Aus ihm erwuchs eine neue Menschlichkeit, die schon
wenige Jahre später vergessen schien. Staubsauger,
Waschmaschinen und Fußball rückten in den Vordergrund.
Die meisten Leute wurden erst aktiv und tapfer,
als der Feind längst über alle Berge war.
Es gab zu viele tote Fische in der Bevölkerung,
die mit dem Strom schwammen. Tote Fische
schwimmen immer mit dem Strom, Sándor.
Das Hemd ist denen näher als der Rock;
für Menschlichkeit bleibt wenig Platz.
Dieser Strom war aggressiv, Sándor.
Hochexplosiv. Hatte er Panik? – Weshalb?
Eigentlich wollte ich Ihnen nur schreiben, dass
übermorgen immer noch Chanukkah ist,
das Lichterfest (der 8. und letzte Tag).
Sie, Sándor, hatten nichts gegen Juden,
die Russen übrigens auch nicht. Juden waren
ihnen gleichgültig. Gott sei Dank!!!
Den großen Chanukkah-Leuchter in Berlin, Sándor,
hat jemand für mich fotografieren lassen. Dieser Jemand
steht davor oder drunter, und ich sehe ihm an, dass er friert.
Er kleidete sich schon immer viel zu dünn im Winter.
Er hat lange, schmale, schöne Hände, die noch nie in
Handschuhen steckten.
Und wieder ist ein Winter in die Welt gesunken
und hat alle Lichter zum Strahlen gebracht,
auch den großen Chanukkah-Leuchter in der Hauptstadt.
Und auch ich werde irgendwann im Winter dort stehen, Sándor –
und vielleicht genauso frieren ohne Handschuhe.
Und möglicherweise ist dann jemand an meiner
Seite, der auch mich fotografiert – dort,
unter dem schönen Chanukkah-Leuchter,
und dann werde ich an Sie denken.
1. Sándor Márai, ungarischer Schriftsteller und Kritiker des 20. Jhds., geboren am 11. April 1900 in Kaschau, gestorben 22. Februar 1989 im Exil in San Diego.
2. Chanukkah: Jüdischer Feiertag. Mit dem Lichterfest feierte man die Wiedereinweihung des Tempels nach dem Sieg über die seleukidische Armee 165 v. Chr.
Wundersamerweise brannte damals im Tempel ein Leuchter, der nur für einen Tag geweihtes Öl hatte, insgesamt acht Tage. Heute wird das Fest im Dezember gefeiert, acht Tage lang.