Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 92

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mich, als ob ich meine Augen riebe und als ob ich erst die Opfer dieses Unglücks bemerkte; ich stürze zur Mutter hin: »Ach, Madame!« sagte ich ihr, »Ihre Töchter sind verloren!« – »Was sagen Sie?« – »Eine Unvorsichtigkeit ... sie befanden sich auf dem Oberdeck ... da fuhr ein Windstoß daher ... sie sind verloren, Madame! Sie sind verloren!« Man kann sich den Schmerz dieser Unglückseligen nicht vorstellen; nie schien mir die Natur beredter, pathetischer zu sein; und umgekehrt hatten mich nie wollüstigere Empfindungen durchströmt. Als die Frau ihrer Sinne wieder mächtig war, schenkte sie mir ihr ganzes Vertrauen. Sie wurde in einem schrecklichen Zustande ans Land gesetzt. Ich logierte in derselben Herberge. Da sie ihr Ende herannahen fühlte, übergab sie mir ihre Brieftasche und bat mich, diese ihrer Familie zu übergeben; ich versprach alles und hielt nichts.[210] Sechshunderttausend Francs, die in jener enthalten waren, waren eine genug beträchtliche Summe, um sie mir bei meinen Grundsätzen nicht entgehen zu lassen; die unglückliche Neapolitanerin, die den zweitnächsten Tag nach unserer Ankunft in Messina starb, ließ mich den Raub bald ruhig genießen. Ich muß gestehen, daß ich nur eines bedauerte: nämlich, nicht mit ihr vor ihrem Tode geschlechtlich verkehrt zu haben. Sie war noch schön, dabei sehr unglücklich, und hatte mir eine äußerst heftige Begierde eingeflößt; aber ich fürchtete ihr Vertrauen zu verlieren; bei dieser Gelegenheit, wo es sich nur um eine Frau handelte, trug die Habgier den Sieg über die Wollust davon.

Ich besaß keine anderen Empfehlungsschreiben in Messina als die Wechsel, mit denen ich mich in Venedig versehen hatte, wo ich die kluge Vorsichtsmaßregel getroffen hatte, mein bares Geld wegen der Wertschwankungen gegen sizilianische Papiere umzutauschen. Der Bankier, dem ich jene vorlegte, zeigte sich mir gegenüber höflicher als die Pariser den Sizilianern gegenüber, die sich mit dem gleichen Anliegen an sie wenden; überhaupt muß ich der vollendeten Urbanität aller fremden Kaufleute, mit denen ich zu tun hatte, alle Ehre widerfahren lassen. Ein Wechselbrief ist für sie ein Empfehlungsschreiben.

Ich legte meinem Bankier gegenüber das Verlangen an den Tag, mit den beträchtlichen Mitteln, die in meinem Besitze waren, mir ein Herrengut zu kaufen. »Das feudale Regime ist hier ganz in Kraft,« sagte ich dem wackeren Manne, »das allein bestimmt mich, mich hier anzukaufen; ich will zugleich den Menschen befehlen und die Erde bebauen, gleicherweise über mein Feld wie über meine Hörigen herrschen.« – »In diesem Falle haben Sie es nirgends besser als in Sizilien,« antwortete mir der Bankier, »in diesem Lande entscheidet der Herr über Leben und Tod seiner Diener.« – »Gerade das suche ich,« war meine Antwort. Um mich nicht diesbezüglich in Einzelheiten einzulassen, teile ich gleich mit, daß ich nach Verlauf von einem Monat Herr von zehn Kirchspielen war und das schönste Landgut mit dem schönsten Schloß im Tale der Ruinen von Syracus besaß, ganz nahe beim Golfe von Catania, d.h. in dem schönsten Teile Siziliens.

Ich verschaffte mir bald ein zahlreiches Gesinde, das ich nach meinem Geschmacke auswählte. Meine Lakaien und Dienerinnen mußten meinen Geilheiten zuwillen sein. Meine Haushälterin, namens Donna Clementia, eine ungefähr sechsunddreißigjährige Frau, eines der schönsten Weiber der Insel, mußte außer ihrer persönlicher Hingabe noch die Aufgabe versehen, Gegenstände beider Geschlechter zu[211] entdecken; und ich kann Euch versichern, daß solange sie diesen Dienst versah, mir nichts abging. Bevor ich mich ansäßig machte, durcheilte ich die berühmten Städte dieser interessanten Gegend.

Theocrits Beschreibungen der Freuden Siziliens hatten nicht wenig dazu beigetragen, in mir den Wunsch zu erwecken, ein so schönes Land zu bewohnen. Ich fand alles richtig, was er über die Milde des Klimas, über die Schönheit der Einwohner, besonders aber über ihre Ausschweifungen sagt. Hier, in diesem wundervollen Himmelstrich, erweckt zweifellos die gütige Natur die Begierden und Leidenschaften, die dazu beitragen können, das Dasein angenehm zu gestalten. Hier muß man es genießen, wenn man die Fülle von Glück, die unser aller zärtliche Mutter ihren Kindern vorbehält, erkennen will. Nach der Besichtigung von Messina, Catania und Palermo kehrte ich zurück, um von meinem Schlosse Besitz zu ergreifen. Da es sich auf einem hohen Berge erhob, genoß ich gleichzeitig die reinste Luft und die herrlichste Aussicht. Dieses Festungsartige des Gebäudes war übrigens meinem Geschmacke sehr förderlich. Ich sagte mir, daß die Gegenstände, die ich ihm opfern werde, hier wie in einem Gefängnis sein würden. Wo sollten sie Beschützer finden, wenn ich zugleich ihr Herr, ihr Richter und Henker sein werde? Ach! Wie göttlich ist der Genuß, wenn Despotismus und Tyrannei ihn also anstacheln!

Clementia hatte Sorge getragen, mein Serail während meiner Abwesenheit in stand zu setzen; ich fand es bei meiner Rückkehr mit zwölf jungen Knaben im Alter von zehn bis achtzehn Jahren, mit sehr schönen Gesichtchen, und der gleichen Zahl von fast gleichaltrigen Mädchen versehen. Man ersetzte sie jeden Monat durch neue; ich überlasse es Euch, meine Freunde, auszudenken, welchen wollüstigen Zügellosigkeiten ich mich überließ. Man kann sich nicht vorstellen, was ich alles ersann; die Grausamkeiten, mit denen ich meine Genüsse mir versüßte; mein Trientiner Abenteuer hatte mich so sehr mit blutigen Gelüsten vertraut gemacht, daß ich mich ohne sie nicht mehr zu behelfen vermochte. Grausam durch meine Geschmacksrichtung, durch mein Temperament und durch inneren Zwang, konnte ich mich keiner Freude überlassen, wenn sie nicht das Gepräge der brutalen Leidenschaft trug, die mich verzehrte. Zunächst ließ ich nur Frauen ihre Wucht fühlen; die Schwäche dieses Geschlechtes, seine Sanftmut und Lieblichkeit, sein Zartgefühl schienen mir ebenso viele Anreize zur Befriedigung meiner Barbarei. Doch sah ich bald meinen Irrtum ein.

Ich fühlte, es sei unendlich wollustreizender, die[212] Aehren, die Widerstand leisten, zu mähen, als das zarte Gras, das sich unter der Sense biegt; wenn diese Erwägung mir nicht schon früher gekommen war, so war dies eher wegen falscher Zurückhaltung als aus Raffinement geschehen. Ich machte Versuche. Der erste Lustknabe, den ich tötete, zählte fünfzehn Jahre, war schön wie die Liebe und verursachte mir so wütendes Entzücken, daß ich mich in Zukunft viel mehr solchen Genüssen zuwandte als anderen. Es schien mir, als ob ich die Frauen allzusehr verachtete, um sie zu Opfern auszuersehen, während die Knaben durch ihre Reize meinen Sinnen mehr schmeichelten, sie

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
Prosa in Kategorie: 
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