Einsamer Ort - ein Kurzkrimi

Bild von Annelie Kelch
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... wenn der mir nachgeschlichen ist und sich hier irgendwo versteckt hält, denkt Tess und sucht mit den Augen die Gegend ab: den schmalen Schilfgürtel, die Wiesen, auf denen hohes Gras wuchert, die Mole, hinter der das Elbwasser wie uferlos aufbricht, als halte das Hafenbecken die Wellen gewaltsam im Zaum; jedenfalls ist kein Land in Sicht, wenn man ostwärts blickt.
Die Mole ist leer: niemand, der aufs Wasser schaut oder mit dem Rücken an der Kaimauer lehnt, verwaist auch das Münzfernrohr. Ob die Bänke besetzt sind, kann Tess nicht ausmachen; die Brüstung, die die Mole umgibt, ist zu hoch.
Tess hat den Strandflecken zwischen Wasser und Schilf auf einem ihrer Streifzüge am Flussufer entdeckt. Bei Ebbe lässt es sich dort aushalten.

Obwohl sie verabredet sind, hat Jenny nicht geöffnet, als Tess bei ihr geklingelt hat, weshalb Tess eine Nachricht hinterlassen hat, dass Jenny zum Treffpunkt kommen solle.

Die seltsame Begegnung von vorhin beunruhigt Tess: Ein Unbekannter hat sich neben sie auf die Bank am Pier gesetzt. Sie hat sich dort ausruhen wollen, ist den Weg von zu Hause zu Fuß gelaufen – den holprigen alten Deich entlang, der mit Kuhfladen gesprenkelt ist.
Im Hafen liegt ein „neues“ Schiff, ozeanriesig und leuchtend weiß. Die Flagge am Heck verriet Tess, dass es aus Griechenland kommt. Auf Deck rannten braun gebrannte Matrosen umher. Einer hat ihr zugewunken und Tess hat gelächelt.
... wenn der mir nachgeschlichen ist, womöglich durchs Schilf, hier hört mich niemand, wenn ich schreie, denkt Tess.
Ihr will der Zeitungsbericht nicht aus dem Sinn, den sie vor einigen Tagen gelesen hat. Ständig hat sie die Fotos der Mädchen vor Augen, die auf dem Heimweg von der Disco spurlos verschwunden sind. Tess hat mit Bestürzung zur Kenntnis genommen, dass die drei ihr verblüffend ähnlich sind: klein, zierlich, brünett, mit kurzen Haaren. Die Mädchen selber ähneln einander. ‑ Fast wie Drillinge, denkt Tess, die noch nicht in die Disco darf. „Sich mit Jungs herumtreiben“, nennt Vater solche Tanzvergnügen.
Dabei suchen diese Mädchen nichts weiter als Liebe, die ihre Eltern ihnen nicht geben können oder wollen, denkt Tess, mit Herumtreiben hat das nichts zu tun. Sie hat nichts gegen gleichaltrige Mädchen, die einen Freund haben. Tess würde sich auch gern mal in der Disco herumtreiben und sich müde tanzen.
„Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?“, hat der Typ sie gefragt. – „Sie!“, hat der zu ihr gesagt; aber Tess hat das nicht beeindruckt. Das wollte der doch, Eindruck schinden; sie sollte sich geschmeichelt fühlen.
„Nein“, hat sie gesagt. „Ich bin auf dem Weg zu meiner Freundin.“ Kaffee mag sie eh nicht.
„Gehen Sie man zu ihrer Freundin“, hat der Mann gesagt und ein böses Gesicht gezogen. Tess ist von der Bank aufgestanden und hat sich wortlos entfernt.
Mit dem stimmt was nicht, grübelt Tess. Sie ist dreizehn und sieht keinen Tag älter als vierzehn aus, und vierzehnjährige Mädchen siezt man nicht. Tess findet das affig – und verdächtig. Und dann war der mindestens vierzig. Was will ein alter Kerl wie der von einem jungen Mädchen wie mich, hat Tess gedacht.
Sie muss an den Mitschnacker denken, der sie vor Jahren auf dem Heimweg von der Schule angequatscht hat. Acht war sie damals. Hinter der Kaserne hat plötzlich ein Auto neben ihr gebremst. Der Fahrer, ein dicker Mann um die fünfzig, hat das Fenster runtergekurbelt und mit öliger Stimme gefragt: „Möchtest du eine Tafel Schokolade, Kleine? Soll ich dich heimfahren?“
„Nein danke“, hat Tess gesagt und gedacht, dass der Typ verschleierte Augen hat, als sei er geradewegs aus einem Tiefschlaf erwacht.
Zum Glück ist der dann weitergefahren, wohl wegen der Häuser links und rechts der Straße. Geschrien wie am Spieß hätte sie, wenn der versucht hätte, sie in sein Auto zu zerren. Möglich, dass der es trotzdem geschafft hätte, sie zu entführen; bevor ein Anwohner den Kindesraub mitgekriegt hätte, wäre der längst mit ihr über alle Berge gewesen.
Ihrer Mutter hat sie nichts von der Begegnung erzählt. Die hätte entweder ein Drama draus gemacht, wonach Tess sich am Ende schuldig gefühlt hätte, weil sie dem eine Antwort gegeben hat, oder den Vorfall heruntergespielt ‑ als habe sie sich das Ganze ausgedacht. Das hätte Tess noch mehr geschmerzt.

„Hoffentlich ist Jenny nicht beleidigt, weil ich neulich mit Celia bei ihr aufgekreuzt bin“, denkt Tess, die nicht gewusst hat, wohin mit Celia den ganzen Tag. Jedenfalls hat sich Jenny bisher mit keinem Wort zu Celia geäußert.

Celia ist die vierzehnjährige Halbschwester ihrer Mutter. Tess’ Großvater hat im hohen Alter ein zweites Mal geheiratet, eine fesche Straßenbahnschaffnerin, die ihn mit Celia beglückte.
Celia ist hübscher als auf den Fotos im Familienalbum, mit blondem Pagenkopf und blauen Augen, und sie ist nett, und sooft Tess an sie denkt, Celia ist vor drei Tagen abgereist, meldet sich kein ungutes Gefühl, obgleich Celia und sie wenig gemeinsam haben.
Der Sommer ist heiß, und der Atem der Elbe riecht modrig – selbst auf jenem Sandstreifen neben dem Schilf, den Tess für Jenny und sich zum Reden und Herumdösen aufgestöbert hat; aber Tess stinkt der Sommer eh, mit allem Drum und Dran. Sie hat gehofft, die Ferien bei ihren Großeltern verbringen zu dürfen, aber ihre Mutter hat gemeint, Celias Besuch bringe genügend Abwechselung in ihr Leben, und wäre Jenny nicht auch zu Hause geblieben, hätte Tess sich vermutlich ertränkt, was naheliegend ist, wenn man in dieser Gegend dem Leben „adieu“ sagen will, folgen ihre Blicke doch täglich den Wellen der Elbe, die sich derzeit sommerlich träge am Küchenfenster vorüberwälzen.

Aber Jenny darf oder will auch nicht verreisen, Tess blickt da nicht durch, möglich, dass Jenny wegen ihr zu Hause bleibt, die kann sehr lieb sein, weshalb Tess beschlossen hat, noch ein Weilchen auszuharren, wirft sich jedoch tagein, tagaus in Winterpullis zu Caprihosen, was ihre Mutter auf die Palme bringt.
Mutter und Celia taten so, als seien sie einander innigst zugetan und plauderten über Mode und Versandhauskataloge, Begriffe, die Tess aus ihrem Wortschatz gestrichen hat. Ihre Mutter legte es darauf an, sie eifersüchtig zu machen, was Tess angeödet hat; sie war nicht die Spur eifersüchtig auf Celia.

Tess wollte Celia die Landschaft nahe bringen, die ihrem Leben Geborgenheit und ein heimatliches Gefühl gibt, hat ihr die Schönheit der sommerbunten Wiesen ans Herz legen wollen, das rotbunte Weidevieh, das im Wind flüsternde Schilf, worin leuchtend gelbes Sumpfdotter spross, und Celia erklärte sich bereit, mit ihr an die Elbe zu wandern. Als sie aufbrachen, trug Celia ein Kleid, dessen Rock sich krinolinenhaft über einen Petticoat bauschte und Schuhe mit hohen Absätzen, was Tess die Laune verdarb, weil sie befürchtet hat, Celia würde schon vor dem ersten Hindernis kneifen. Aber es kam anders, weil Tess, die bis dahin nicht wusste, was Kopfschmerzen sind, einen heftigen Migräneanfall bekam und zurück wollte. Sie hat sich gleich ins Bett gelegt; der Schädel wollte ihr zerspringen. Ihre Mutter hat ihr die Schmerzen nicht abgenommen, hat sich über sie lustig gemacht, glaubte, sie markiere, was Tess zutiefst erschüttert hat.
Der muss mit der Fähre rübergekommen sein, aus Wischhafen oder Stade, denkt Tess, die auf den grauen Sand gesunken ist. In drei Stunden läuft das Wasser auf, und Tess hofft, dass Jenny noch vor der Flut eintrifft, weil sie sonst das Feld räumen muss und Jenny womöglich verpasst.
Sie hat den Mann noch nie zuvor gesehen. Hier im Ort kennt jeder jeden. Der wäre ihr aufgefallen, wäre er ihr in der Stadt begegnet. Nicht, weil der besonders groß oder kräftig oder sonst wie auffällig gewesen wäre; sein unangenehmer Blick hätte sie stutzig gemacht. Tess nimmt sich vor, im Altpapier nach der Zeitung zu suchen, worin der Artikel stand. Sie weiß nicht mehr, wo die Mädchen herkommen, glaubt, dass die Vermissten auch an verschiedenen Orten gelebt haben könnten.
Wenn der mir nachgeschlichen wäre, wäre der längst hier aufgetaucht, grübelt Tess, die sich beobachtet fühlt und an nichts anderes mehr denken kann. Seltsam, dass der immer noch auf der Bank gehockt hat, als sie von Jenny zurückkam. Sie ist vorsichtshalber auf der anderen Seite des Piers langgelaufen, am Fischrestaurant vorbei; es lag ein großer Abstand zwischen ihr und der weißen Holzbank. Trotzdem hat sie bemerkt, dass der sie mit seinen Augen verfolgt hat.
Hoffentlich nur mit den Augen, denkt Tess. Sie hat sich nicht umgeschaut, was sie derweil bereut. Hätte sie spitzgekriegt, dass der ihr nachschleicht, wäre sie in die Stadt zurückgekehrt, anstatt sich in schilfgrüner Einsamkeit zu verkriechen.
Hoffentlich ist Jenny nicht befangen wegen gestern, denkt Tess. Sie hatten am Deich gelegen und über die letzte Deutschstunde geredet. Ihre Lehrerin hatte gesagt, dass was dran sein müsse am Marxismus, anderenfalls hätte ein kluger Kopf wie Brecht diese Theorie nicht gutgeheißen. Sie sollten sich mal darüber Gedanken machen. Jenny hat Tess gefragt, was sie vom Kommunismus halte, und Tess hat gesagt, dass ihr die Kommunisten unheimlich sind, Brecht hingegen gefalle ihr; der sei gar kein echter Kommunist gewesen, das beweise seine Lyrik. Der habe Mitleid mit dem Proletariat gehabt und wäre mit den jetzigen Verhältnissen in der DDR ganz gewiss nicht einverstanden gewesen.
Tess hat ihr dann den neuesten Witz aus der Zeitung erzählt, und Jenny warf sich plötzlich auf sie und hat sie abgeknutscht und gesagt, sie, Tess, sehe so süß wie Rex Gildo aus, mit ihrem raspelkurzen dunklen Haar und den langen Wimpern. Und Tess, die nichts dagegen hatte und auch für Rex Gildo schwärmt, roch derweil Jenny und das Reet ringsumher. Jenny roch nach Seife, und das rußschwarze Reet, das jeden Sommer zwischen Deichhang und Wiesen liegt, stank verkokelt und glomm an manchen Stellen, als krabbelten Glühwürmchen darin herum.
Tess ließ Jenny gewähren. Soll sie sich austoben, hat sie gedacht, hätte aber lieber mit Sal Mineo geschmust, dessen Foto sie Tage zuvor in der BRAVO entdeckt hat. Aber das hat sie Jenny lieber nicht erzählt.

Tess hat ihr Gesicht der Sonne zugewandt, döst vor sich hin, sieht weder den Bananendampfer, der wie ein riesiger stolzer Schwan an ihr vorbeizieht, noch hört sie das Rascheln im Schilf, das von keinem Vogel rührt, nimmt auch den Schatten nicht wahr, der auf sie fällt, und bevor sie schreien kann, falten sich zwei Hände um ihren Hals und drücken ihr die Kehle zu.

Jenny rennt quer über die Wiesen und winkt und winkt ... aber Tess in ihrem grünen Winterpulli rührt sich nicht.
... ist wohl eingepennt, denkt Jenny, froh darüber, dass sie nach der Einkaufstour mit ihrer Mutter noch mal weg durfte, denn die Flut, deren Wellen schon Tess’ rechten Arm umspülen, der Richtung Mole weist, rückt näher und näher.
Jenny kniet neben Tess, will sie wecken, blickt in deren schreckensweit geöffnete, leblose Augen, schüttelt sie, rüttelt sie, schreit, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geschrien hat ‑ aber niemand hört sie; da ist außer ihr und Tess weit und breit keine Menschenseele.

Interne Verweise

Kommentare

01. Dez 2016

Auch dieser Krimi wird geschätzt -
Obwohl er gar nicht fortgesetzt ...
(Bloß Krause scheint leicht irritiert -
Ist auf Leander schwer fixiert!)

LG Axel

01. Dez 2016

Krause ist, scheint mir, nicht allzu flexibel -
oder ist sie gar hochgradig sensibel,
fortwährend an Leander denkend,
und nichts und niemand mehr Aufmerksamkeit schenkend?

LG Annelie

01. Dez 2016

Krause "sensibel" - ich fürchte fast -
Die lacht sich grade einen Ast ...
(Die Sturheit liegt, so scheint es mir -
Wahrscheinlich stark am Dauer-Bier!)

LG Axel