Für immer - Page 3

Bild von Amalia Goldbach
Bibliothek

Seiten

den beiden?“ Anna wusste, dass die Frage ehrlich war, nickte und ließ sich von Marcel durch die Menschen bis zur ersten Treppe schieben. Es war ein kleines Gebäude und obwohl das Architektengremium ein klassisches Arenatheater modern gedacht hatte, schien es Anna als lege sich das Gebäude stilistisch nicht eindeutig fest. Für moderne Klarheit war mit zu viel Plüsch und organischen Formen gearbeitet worden, für barocke Schwere mangelte es an royalen Insignien bezogen auf Architektur und Ausstattung. Allerdings verliehen die schwebenden Freitreppen und dünnen Rundstützen dem Gebäude eine beinahe schüchterne Eleganz, die sich nur schwer gegen den imposanten elliptischen Bühnenturm durchsetzen konnte. Und es gab einen Innenhof, der in den Pausen für nikotinbegeisterte Gäste geöffnet wurde. Zwei alte Buchen umrahmt von Steinskulpturen bildeten den Mittelpunkt und es schien, als würden sie mächtig und erhaben über die Kunst wachen. Langsam kam sie hier an. In dem Zuhause ihrer Träume. Sie liebte das Theater. Vor allem aber liebte Anna das Ballett. Sie saßen wie immer genau in der Mitte. Parkett 13. Reihe. Von dort hatte man einen direkten Blick auf die Bühne. Bis zu ihren Plätzen mussten sie an genervten Gesichtern mit den dazugehörigen Armen und Beinen vorbei. Die einen fanden für ihren Unmut Worte, die anderen schüttelten nur missbilligend den Kopf. Marcel litt jetzt Höllenqualen. Er hasste solch peinliche Auftritte, aber noch mehr hasste er, dass Anna sie einfach weg lächelte. Ganz gleich, ob sie in ein unfreundliches oder freundliches Gesicht blickte. In der Mitte sitzen und dann zu spät kommen, passte nicht zu Marcels Korrektheit. Als sie sich endlich auf ihren Sitz fallen lassen konnten, ging auch schon das Licht aus.

Marie hatte die Karten besorgt und den Abend geplant. Marie saß auf dem Platz rechts neben Anna. Sie würden sich später richtig begrüßen. Bis dahin hatte sie ihr verziehen, dass sie mal wieder zu spät gewesen war. Anna flüsterte in Richtung Maries rechtes Ohr: „Gerade noch geschafft.“ Sie hatte tagsüber keine Zeit gefunden, sich zu erkundigen, wer hier und jetzt auftrat. Und am Ende hatte sie es fast vergessen. Sie war gekommen, um zu zuschauen und ganz unerwartet stand sie mittendrin. Zwei Tänzer, ein Mann und eine Frau verfingen sich miteinander in der Musik. Ein unsichtbares Netz aus Wut, Angst und Versprechen. In den Bewegungen des Tänzers konnte Anna die Musik sehen.

Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr verweigerte Annas linkes Ohr die Übertragung von Tönen. An einem Freitag war sie zu spät nach Hause gekommen. Es waren die letzten Proben vor ihrem ersten Auftritt im Theater gewesen. Ihre Ballettlehrerin hatte mit Anna noch einen Sprung geübt. Erst wollte nichts gelingen. Die Musik prallte von ihr ab und ihr Körper schien schwer wie Blei. Doch sie gaben nicht auf und irgendwann war ihr die Angst zu anstrengend geworden und sie hatte sich von der Musik mitnehmen lassen, hoch und weit. Vor lauter Freude hatten sie beide vollkommen die Zeit vergessen und sich am Ende schrecklich beeilen müssen. Die eine, weil Zuhause ein Kind auf sie wartete, die andere weil Regeln wichtig waren und sie nun das Abendessen verpasste. Als Anna nach Hause kam, war das Essen vorbei und die Familienrunde aufgelöst. Das Au pair Mädchen beseitigte die letzten Spuren in der Küche und hätte ihr gerne etwas von dem Abendessen angeboten und Anna hätte gerne erzählt. Ihr Vater saß vor dem Kamin und las. Alle anderen hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Anna hatte den Schlag nicht vermutet und ihn darum ungebremst mit voller Wucht aufgefangen. Sicher platziert auf das linke Ohr. Weder sie noch das Ohr hatten sich gewehrt. Dem Schmerz folgte die Taubheit und blieb für immer. Sie hatten gedacht, sie würde das Tanzen nun aufgeben, doch Anna lernte schnell die Musik zu fühlen. Natürlich konnte man es als eine Art Unfall betrachten. Ihr Vater hatte das nicht gewollt und es war ihm für den Rest ihrer gemeinsamen Zeit unangenehm, dass er nicht kontrollierter gehandelt hatte. Ein Zwischenfall, der nicht passiert wäre, hätte Anna die Regeln befolgt. Anna lernte trotzdem nicht, dass das Einhalten von Regeln und vorgezeichnete Wege wichtiger sind als die Liebe und das Glück. Aber sie lernte Angst zu haben. Angst vor Dingen, die man nicht sieht.

Jetzt sah sie die Töne und Melodie in den Bewegungen des Tänzers. Er nahm sie mit auf seine Reise durch die Musik. Schritte, Drehungen und Sprünge waren auf eine unbekannte Art und Weise neu. Sie wurden in der Musik lebendig. Technische Perfektion, die sich in den Vordergrund drängt, hielt Anna auf Distanz. Verhinderte sogar, dass sie folgen konnte. Dieser Tänzer ließ die Bewegungen durch die Musik hindurch zu den Menschen gehen. Behielt sie nicht auf der Bühne, damit sie bewundert werden konnten, sondern verschenkte sie an seine Tanzpartnerin, an das Publikum und an Anna. Es war das Verweilen, das „Eins sein“ mit dem was Hände, Arme, Beine und Kopf taten, ein Fließen von Emotionen durch die Musik hindurch bis zum Teilen. Es wurde einer jener leisen Momente, die dem Leben eine neue Form, eine andere Richtung und Melodie geben. Irgendwo tief in ihr sprang etwas auf, zerbarst der Schutzwall, den sie so sorgfältig um ihr Herz gebaut hatte. Anna holte tief Luft, ohne dass etwas davon in ihren Lungen ankam. Sie schwitzte, ihre Beine waren angespannt und eine merkwürdige Unruhe ließ sie nach diesem Stück auf das Ende warten. Was es auch war, sie saß hier in einem kleinen Theater bei einer Tanzaufführung und wurde eine Fremde. Etwas Unbekanntes strahlte auf die Bildschnipsel der Vergangenheit. Etwas, von dem Anna noch keine Ahnung hatte. Als das Licht anging und die Vorstellung zu Ende war, war dieses Gefühl immer noch da. Und sie wollte es auf keinen Fall in einem Weinglas ertränken. Sie wollte es unbedingt mit nach Hause nehmen. Marcel wollte auch mit nach Hause genommen werden. Doch er kannte die Spielregeln. Auch wenn die kleinen Hände längst größer geworden waren und los gelassen hatten, gab es keinen Zutritt. Ihm blieb die große Geste des verständnisvollen Freundes, der gerade diese Seite an ihr liebte. Sie wussten beide, dass er auf Zeit spielte.

Seiten

Mehr von Amalia Goldbach lesen

Interne Verweise