Als der Himmel Trauer trug - Page 2

Bild von Annelie Kelch
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der Hölle das Paradies, aus dem Milchstraßen-Verkehr. Ich weiß, was du jetzt denkst, alter Gauner: Ich solle mich gefälligst an die eigene Nase fassen; aber du bist im Unrecht! Gewiss, ich leuchte noch, ziemlich heftig sogar – jedoch nur zum Schein, im wahrsten Sinne des Wortes, weil man letztendlich den Tag von der Nacht unterscheiden muss, obwohl sich die Erde zu einem Ort entwickelt hat, an dem selbst im gleißenden Sonnenlicht finstere Nacht herrscht. Und glaube ja nicht, ich sei stolz darauf, dass meine warmen Strahlen, mit denen ich während der Lagerappelle die rasierten Köpfe und ausgemergelten Körper der Kinder liebkose, das Beste sein könnten, das ihnen unter diesen qualvollen Lebensbedingungen widerfährt ‑ von grausamen Feinden umgeben, denen sie schutzlos ausgeliefert sind. Makaber genug: eine Sonne, die sie streichelt, bevor sie in den Gaskammern der Nazis ermordet werden.
Luna, ich bringe es jetzt auf den Punkt. Präge dir bitte Folgendes ein, damit der Plan meiner Schützlinge gelingt: Am kommenden Mittwoch, gegen acht Uhr abends, wird ein Unwetter über Auschwitz toben; es wird regnen, stürmen, blitzen und donnern. Das Stromnetz wird zusammenbrechen; ihr ‑ du und deine Sterne ‑ habt das Leuchten eingestellt, und seid hinter die Wolken gekrochen; im Lager wird es stockfinster sein. Capito?“
Wenn das keine Massenflucht auslöst, dachte ich sogleich und sann eine Weile darüber nach, ob eine solche geeignet wäre, den Plan zu begünstigen oder gar zu vereiteln, kam jedoch zu keinem vernünftigen Ergebnis.
„Chajm, Dalia, Rouven und Rachel werden versuchen, über die Slowakei zu entkommen. ‑ Wohin?, höre ich dich fragen. Nun, das steht in deinen Sternen! Lies es oder lass es bleiben! Hauptsache, fort aus Birkenau: ein Kampf auf Leben und Tod, aber auch ein Hoffnungsschimmer,“ hieß es weiter im Text.
Sunny konnte ausgesprochen kiebig werden ‑ von wegen „Capito!“ und „Lies oder lass es bleiben!“
„Rachel an einen sicheren Ort zu wissen, sofern es einen solchen auf dieser verfluchten Erde noch gibt, ist mir wichtiger als alles andere im Weltall“, fuhr Sunny fort.
Ich ließ den Brief sinken, dachte an Rachel Nussbaum, die gewiss ein außergewöhnliches Mädel war, anderenfalls hätte Sunny sie nicht in ihr Herz geschlossen. Ich konnte es mittlerweile kaum erwarten, die Kleine dort unten auf der Erde ausfindig zu machen.

„Du wirst mich verstehen, sobald du Rachel gesehen und ihre Stimme gehört hast. Sie klingt wie das Rascheln der Blätter im Wind – als weile sie bereits unter den Toten. Hab ein Auge auf das Mädel! Noch ist sie am Leben – teilt ein verlaustes Strohbett mit Dalia, die mit ihrer Mutter befreundet war“, schrieb Sunny.
„Was du noch wissen solltest, Luna: Chajms Sprössling ist in Rachel verliebt. Er hat es dem Thomasz Mintz aus Polen erzählt. Rachel hat keine Ahnung, wie es um Rouven steht. Deshalb muss Dalias Plan gelingen. Ich möchte, dass Rachel erfährt, wer sie lieb hat.
Und bitte, Luna, verursache dieser Tage die nächste Finsternis auf Erden, rein astronomisch, versteht sich; finster ist es dort in anderer Hinsicht mehr als genug. Dann nämlich können wir in Ruhe und von Angesicht zu Angesicht über den Ausgang der Flucht diskutieren. Wünsch uns Glück, lieber Freund. Ich verlasse mich auf dich. Alles Liebe! ‑ Sunny!“
Ich hatte keine Ahnung, was in jener Nacht in Birkenau vor sich ging – ebenso wenig wie Sunny, wie sich später herausstellte.
Kurz nach Mitternacht, als das Unwetter über Auschwitz fast vorüber war, schickte ich Sirius und Schildchen, meine tapferste Milchstraßenwolke, auf Reisen; die zwei sollten Chajm, Dalia, Rouven und Rachel ausspähen und auf deren gefahrvollen Wegen begleiten – auf dass es stockfinster würde, sollten die verrohten Nazis ihren Weg kreuzen. Ich ging davon aus, dass Chajm vor der Flucht sämtliche Stablampen eingesammelt und versteckt hatte.

In jener schicksalhaften Nacht, die mir in Erinnerung ist, als wären seither keine drei Tage verstrichen, warteten Wega und ich vergeblich auf Schildchens und Sirius’ Heimkehr. Ich wurde von Stunde zu Stunde bleicher und starb fast vor Sorge.
Erst am nächsten Tag, es ging auf den Abend zu, trafen beide in der Milchstraße ein – zum Umfallen müde, aber erleichtert, wie mir schien. Wir brannten darauf, ihren Bericht zu hören, aber Sirius und Schildchen stürzten sich in eine flauschige Wolke und schliefen auf der Stelle ein.

Ich hatte zwei Tage zuvor Rachel entdeckt und wollte eigentlich nichts mehr hören und sehen von diesem furchtbaren Ort Birkenau, dessen lieblicher Name ganz und gar nicht hielt, was er versprach. Das Mädel war nur noch Haut und Knochen; ihr Gesicht bestand aus nichts als riesigen dunklen Augen, die dermaßen traurig blickten, dass es kaum auszuhalten war. Sie saß auf einem Stein vor der Frauenbaracke, und ich wusste sofort, dass ich Sunnys Schützling gefunden hatte. In jener Nacht fehlte kein einziger Stern am Himmel. Alle wollten Rachel sehen.
Ich präsentierte der Kleinen, die zu mir aufschaute wie zu einem fernen Gott, meine allerschönste Seite. Kurz darauf trat eine Frau aus der elenden Unterkunft und mahnte: „Komm jetzt, Rachel, leg dich schlafen, bevor die Wachsoldaten dich entdecken.“
„Einen Moment noch, Tante Dalia“, bat das Mädel. „Schau nur, wie schön der Silbermond am Sternenhimmel leuchtet.“
Mir blieb vor Stolz fast das Herz stehen, aber Dalia sagte: „Eben deshalb kommst du jetzt mit mir in die Baracke. Du bringst uns noch alle in Gefahr.“ Sie packte Rachel am Arm und zog sie mit sich fort.

Nachdem Sirius und Schildchen gefrühstückt hatten, erstatteten sie uns endlich Bericht. Sirius führte das Wort. Die Sterne und ich hingen wie gebannt an seinen Lippen.

„Wir entdeckten die Flüchtlinge im Birkenwäldchen hinter den Wachtürmen“, begann er mit stockender Stimme, die mich sogleich stutzig machte; aber ich brachte es fertig, mich zurückzuhalten.
„Chajm und Dalia hatten Rachel in ihre Mitte genommen und schleiften sie mit sich. Jedes Mal, wenn Hunde kläfften oder das Gegröle der Nazis zu hören war, zuckte Rachel zusammen.
Rouven sagte: 'Nie war der Himmel schwärzer als heute Nacht.' Blitzschnell schoss ich hinter Schildchen hervor und Rachel wisperte: 'Nein, Rouven, schau nur, dort oben steht ein einzelner Stern. Wie hell er strahlt!'
'Pst, seid still, Kinder', schalt Dalia. 'Unsere Füße machen genug Lärm. Außerdem wimmelt es hier von Minen.'
'Denen ist es egal, ob wir schweigen oder flüstern', brummte Chajm.

Sie robbten über das Feld, das hinter dem kleinen Birkenwald lag und rannten in ein angrenzendes Fichtengehölz.
'Jahrelang hat man kaum einen Baum zu Gesicht bekommen und nun ganze Bataillone aus Holz und Laub ...', seufzte Dalia.
'... die uns verbergen und beschützen,' sagte Chajm.

Wenige Meter vor der Grenze zur Slowakai wären Rouven und Chaijm, die vorausgeschlichen waren, um Haaresbreite einer Patrouille ins Netz gegangen. Ich verbarg mich flugs hinter Schildchen; es wurde im Nu stockfinster auf dem kleinen, von Sträuchern umsäumten Feldweg, und beiden gelang es, unbemerkt in den Wald zurückzuschleichen ‑ zu Dalia und Rachel, die hinter dem dichten Gestrüpp einer Weide kauerten.
Als die Posten außer Sichtweite waren, flohen alle vier in die Slowakai. Dort wies ich ihnen den Weg zu einem Bauernhof, der von braven Partisanen bewirtschaftet wird.“
Meine Erleichterung kannte keine Grenzen, alle Anspannung war von mir abgefallen, als Schildchen, die die ganze Zeit über geschwiegen hatte, mit einem Mal zu schluchzen begann. Ich warf Sirius einen fragenden Blick zu. Er schluckte, hatte Mühe, seine Tränen zurückzuhalten.
„Rachel ist gestorben“, brach es nach einer Weile aus ihm heraus. „Die tapfere kleine Rachel hat die Flucht nicht überlebt. Mit der Angst ist gleichermaßen das Leben von ihr gewichen ‑ als sei es einzig und allein die Angst gewesen, die sie am Leben erhalten hat. Kaum lag sie im weichen Bett der Bäuerin, fielen ihre Augen zu; wir ahnten, dass sie den Morgen nicht erleben würde.
Rouven saß die ganze Nacht an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Einmal beugte er sich über sie und flüsterte drei kurze Worte, bevor er die fiebertrockenen Lippen der Sterbenden küsste. Rachel schlug ein letztes Mal die Augen auf und lächelte. Sie sah sehr glücklich aus.“
Sirius schwieg und ließ seine Schultern sinken.
Meine Sterne zogen sich betrübt hinter die Wolken zurück, einer nach dem anderen; von ihren Zacken tropfte ein Tränenmeer auf die Erde hinab.

Ich war wieder allein und dachte mit Schaudern daran, was ich Sunny während der nächsten Finsternis beibringen musste ‑ falls sie nicht längst über Rachels Tod im Bilde war. Weit über ein Jahr hinaus trugen wir Trauer: schwarze Bändchen, die Schildchen flocht und den Sternen über die Zacken stülpte.

Nun wurde es allerhöchste Zeit, Sunnys neuste Nachricht zu sichten. Ich starrte etwas ratlos auf den Brief in meinen Händen. 'An Luna', stand neben einem runden gelben Stempel mit zigmillionen Sonnenstrahlen, worüber ich ein wenig verärgert war. Keinesfalls der Strahlen wegen, Gott bewahre; ich mag es nur nicht, wenn man mich 'Luna' nennt. Ich bin 'der Mond', nicht mehr und nicht weniger ‑ und männlich, darauf lege ich Wert. LyrikerInnen mögen mich in Gottes Namen 'Luna' nennen, ich kann eh nichts dagegen tun; aber Sunny ist keine Dichterin, dazu ist sie viel zu realistisch.

Ich riss den Umschlag auf, war ein wenig ungeduldig, das gebe ich
gerne zu. Meine Spannung wuchs, nachdem ich die Seiten herausgezogen hatte; es waren insgesamt zehn, eng beschrieben. Sunny hatte rote Tinte verwendet; ich hatte Mühe, ihre Schrift zu entziffern, die den Eindruck erweckte, als sei eine Taube mit roter Tinte an den Zehen übers Papier getrippelt. Ich hasse solche Nachlässigkeiten.

„Luna, du musst mir helfen!!!!!!!!“, hieß der erste Satz ‑ keine Anrede, keine Einleitung, genau wie in ihrem ersten Brief von anno 44; ich war reichlich konsterniert.
„In Germany lebt ein ganz liebes Mädel“, fuhr Sunny fort. „Sie heißt Hatice Yildiz und besucht die fünfte Klasse der Realschule. Ihr Vater ist sehr streng: Sie darf weder am Schwimmunterricht teilnehmen noch mit auf Klassenfahrt. Aber weitaus schlimmer: In diesem Staat etabliert sich mal wieder eine Partei, die den Holocaust leugnet und gegen Migranten hetzt.
Wir müssen unbedingt dagegen vorgehen und rechnen fest mit deiner Hilfe, alter Freund. Ich befürchte, dass Hatice in Gefahr ist ‑ und nicht allein sie. Wir von der Milchstraße haben einen Plan ausgeheckt: Antares, Wega und ich wollen denen die nächste Parteiversammlung vermasseln und einen klitzekleinen Meteoriten ...“
Ich seufzte und ließ das Blatt sinken.

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Kommentare

05. Nov 2016

Sterne, Mond und Sonne -
Dieser Text macht Wonne ...

LG Axel

05. Nov 2016

Danke für die Wonne-Worte,
ja, es gab früher schon Orte,
die man hin und wieder
mal erwähnen soll;
gibt leider immer noch viele,
die das leugnen oder toll
finden, was damals geschah.

LG Annelie.

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