Der Weihnachtsabend (auch eine Weihnachtsgeschichte) - Page 7

Bild von Charles Dickens
Bibliothek

Seiten

verschlossen und verriegelt, wie vorher. Er versuchte zu sagen: dummes Zeug, aber blieb bei der ersten Sylbe stecken, und da er von der innern Bewegung, oder von den Anstrengungen des Tages, oder von seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder der Unterhaltung mit dem Gespenst, oder der späten Stunde sehr erschöpft worden war, ging er sogleich zu Bett, ohne sich auszuziehen, und sank schnell in Schlaf.

Zweites Kapitel.
Der Erste der drei Geister.

Als Scrooge wieder aufwachte, war es so finster, daß er kaum das durchsichtige Fenster von den Wänden seines [34] Zimmers unterscheiden konnte. Er bemühte sich, die Finsterniß mit seinen Katzenaugen zu durchdringen, als die Glocke eines Thurmes in der Nachbarschaft viertelte. Er lauschte, um die Stunde schlagen zu hören.

Zu seinem großen Erstaunen schlug die Glocke fort, von sechs zu sieben, und von sieben zu acht und so weiter bis zwölf; dann schwieg sie.

Zwölf! Es war zwei vorüber gewesen, als er sich zu Bett gelegt hatte. Das Uhrwerk mußte falsch gehen. Ein Eiszapfen mußte zwischen die Räder gekommen sein. Zwölf!

Er drückte an die Feder seiner Repetiruhr, um der verrückten Glocke nachzuhelfen. Ihr kleiner, lebendiger Puls schlug zwölf, und schwieg.

„Was! es ist doch nicht möglich,“ sagte Scrooge, „ich sollte den ganzen Tag und tief in die andere Nacht geschlafen haben? Es ist doch nicht möglich, daß der Sonne was passirt und daß es Mittags um zwölf ist.“

Mit diesem unruhigen Gedanken beschäftigt, stieg er aus dem Bett und fühlte sich nach dem Fenster. Er mußte das Eis erst wegkratzen und das Fenster mit dem Aermel seines Schlafrockes abwischen, ehe er etwas sehen konnte; und auch hernach konnte er nur sehr wenig sehen. Alles, was er gewahren konnte, war, daß es noch sehr neblicht und sehr kalt war, und daß man nicht den Lärm hin und hereilender Leute hörte, der doch gewiß stattgefunden hätte, wenn Nacht den hellen Tag vertrieben und selbst Besitz von der Welt genommen hätte. Das war ein großer Trost, weil „drei Tage [35] nach Sicht bezahlen Sie diesen Primawechsel an Mr. Ebenezer Scrooge oder dessen Ordre u. s. w.“ eine bloße Vereinigte Staaten-Sicherheit gewesen wäre, wenn es keine Tage mehr gab, um danach zu zählen.

Scrooge legte sich wieder ins Bett und dachte darüber hin und her, konnte aber zu keinem Schlusse kommen. Je mehr er nachdachte, desto verwirrter wurde er; und je mehr er sich bestrebte, nicht nachzudenken, desto mehr dachte er nach. Marley’s Geist machte ihm viel zu schaffen. Allemal, wenn er nach reiflicher Ueberlegung zu dem festen Entschluß gekommen war, das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine starke vom Druck befreite Feder wieder in die alte Lage zurück und legte ihm dieselbe Frage wieder vor, die er schon zehnmal überlegt hatte: war es ein Traum oder nicht?

Scrooge blieb in diesem Zustande liegen, bis es wieder drei Viertel schlug. Da besann er sich plötzlich, daß der Geist ihm eine Erscheinung mit dem Schlage Eins versprochen hatte. So beschloß er wach zu bleiben, bis die Stunde vorüber sei; und wenn man bedenkt, daß er eben so wenig schlafen, als in den Himmel kommen konnte, war dies gewiß der klügste Entschluß, den er fassen konnte.

Die Viertelstunde war so lang, daß es ihm mehr als ein Mal vorkam, er müßte unversehens in Schlaf gefallen sein und die Uhr überhört haben. Endlich vernahm sein lauschendes Ohr die Glocke.

„Bim, Baum!“

[36] „Ein Viertel,“ sagte Scrooge zählend.

„Bim, Baum!“

„Halb,“ sagte Scrooge.

„Bim, Baum!“

„Drei Viertel,“ sagte Scrooge.

„Bim, Baum!“

„Voll!“ rief Scrooge freudig, „und weiter nichts!“

Er sprach das, ehe die Stundenglocke schlug, was sie jetzt mit einem tiefen, hohlen, melancholischen Eins that. In demselben Augenblicke wurde es hell in dem Zimmer und die Vorhänge seines Bettes wurden geöffnet.

Ich sag’ es Euch, die Vorhänge seines Bettes wurden von einer Hand weggezogen; und Scrooge, sich aufrichtend, blickte dem unirdischen Gast in das Gesicht, der sie geöffnet hatte; so dicht stand er ihm gegenüber, wie ich jetzt im Geiste neben Euch stehe.

Es war eine wunderbare Gestalt, gleich einem Kinde; aber doch eigentlich nicht gleich einem Kinde, sondern mehr wie ein Greis, der durch einen wunderbaren Zauber erschien, als sei er dem Auge entrückt und auf diese Weise so klein geworden wie ein Kind. Sein Haar, welches in langen Locken auf seine Schultern herabwallte, war weiß, wie vom Alter; aber doch hatte das Gesicht keine einzige Runzel und um das Kinn bemerkte man den zartesten Flaum. Die Arme waren lang und muskulös; die Hände eben so, als liege eine ungeheure Kraft in ihnen. Seine Füße, zart und fein geformt, waren, wie die Arme, entblößt. Der Geist trug [37] eine Tunica vom reinsten Weiß; und um seinen Leib schlang sich ein Gürtel von wunderbarem Schimmer. Er hielt einen frisch-grünen Stechpalmenzweig in der Hand; aber in seltsamem Widerspruch mit diesem Zeichen des Winters war das Kleid mit Sommerblumen verziert. Das Wunderbarste aber war, daß aus der Krone auf seinem Haupte ein heller Lichtstrahl in die Höhe schoß, welcher Alles rings erleuchtete, und welcher gewiß die Ursache war, daß der Geist bei weniger guter Laune einen großen Lichtauslöscher, den er jetzt unter dem Arme trug, als Mütze aufsetzte.

Aber selbst dies war nicht seine seltsamste Eigenschaft. Denn wie der Gürtel des Geistes jetzt an dieser Stelle glänzte und funkelte und jetzt an jener, und wie das, was im Augenblick hell gewesen war, jetzt dunkel wurde, so verwandelte sich auch die Gestalt selbst, man wußte nicht wie: jetzt war es ein Ding mit einem Arm, jetzt mit einem Bein, jetzt mit zwanzig Beinen, jetzt bloß zwei Füße ohne Kopf, jetzt ein Kopf ohne Leib; und wie einer dieser Theile verschwand, blieb keine Spur von ihm in dem dichten Dunkel zurück, welches ihn aufnahm. Und das größte Wunder dabei war: die Gestalt blieb immer dieselbe.

„Sind Sie der Geist, dessen Erscheinung mir vorhergesagt wurde?“ fragte Scrooge.

„Ich bin es.“

Die Stimme war sanft und wohlklingend und so leise, als käme sie nicht aus dichtester Nähe, sondern aus einiger Entfernung.

[38] „Wer und was seid Ihr?“ fragte Scrooge, schon etwas mehr Vertrauen fassend.

„Ich bin der Geist der vergangenen Weihnachten.“

„Der lange vergangenen?“ fragte Scrooge, seiner zwerghaften Gestalt denkend.

„Nein, Deiner vergangenen.“

Vielleicht hätte

A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (wörtlich Ein Weihnachtslied in Prosa, oder Eine Geistergeschichte zum Christfest, deutsch meist Eine Weihnachtsgeschichte) ist eine der bekanntesten Erzählungen von Charles Dickens. Sie wurde im Dezember 1843 mit Illustrationen von John Leech erstmals veröffentlicht.

Veröffentlicht / Quelle: 
Der Weihnachtsabend. J. J. Weber, 1844

Seiten