Parabel auf eine vermeidbare Zukunft

Bild zeigt Bernhard W. Rahe
von Bernhard W. Rahe

Wenn zur vollen Stunde die schwere Tür krachend und kreischend geöffnet wird, werde ich teilnahmslos – aber doch auf der Hut, den Fraß entgegen nehmen. Aber nur, wenn ich stark bin und ich meine Erinnerungen ausgeblendet haben werde. Es wird kein „Bitte“ oder „Danke“ aus irgendeinem Mund kommen und es wird keinen Blick geben, der eines dieser Worte zu ersetzen vermag. Der Aufseher wird möglicherweise seine Hände nach dem Urinieren nicht gewaschen haben und mir mit dem klitschigen Weißbrot den Tellerrand ausschmücken. Und wenn dieser Kerl schlecht drauf ist, wird er mir in das Essen gespuckt haben. Und wenn meine Wandlung zum Tier in diesem Kerker voran geschritten ist, will ich diesen Menschen in die Hölle, in sein eigenes Verderben wünschen. Ich werde ihm in Gedanken die unerträglichsten und schlimmsten Worte in die schiefe Visage schmettern. So lange, bis er sich auf dem Ungeziefer überquerten Boden wälzen wird. Jedes meiner Worte – die ich aber nicht sagen darf – wird ihm wie ein kräftiger Stoß in die Rippen vorkommen. Er wird sich dagegen zu wehren versuchen aber ich werde ihm keinen Spielraum lassen. Er wird die Verkehrung meiner Verbitterung, mein ganzes Leid, die ganze Ungerechtigkeit, die über mich ergeht, zu spüren bekommen. Ich werde unversöhnlich sein. Meine Beschimpfungen sollen tonlos in ihn hineinschneiden und jenen kranken Nerv, der dafür sorgt, mich zu demütigen, durchtrennen. Mein entstandener Hass wird dieses Menschengeschwür in Grauen versetzen.
Ich höre lang gezogene gleichmäßige hart aufgesetzte, unerfreuliche Schritte. Nein, das ist nicht ganz korrekt. Ein Fuß, das habe ich in den letzten Monaten herausbekommen, berührt etwas verzögert den Stahlboden der Bestrafungsanstalt. Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde. Vielleicht hat er einen Hüftschaden oder ein geringfügig verkürztes Bein. Vielleicht ist er der Teufel. Ich darf es ihm aber nicht sagen. Er könnte sich eine Einlage verschreiben lassen, dann würde ich diese unerträgliche Verzögerung im Zyklus aller dumpfen quälerischen Tage nicht mehr erleiden müssen. Ich darf es dem Aufpasser nicht sagen. Er würde mich dafür traktieren, weil er meine Rede als Beleidigung oder Provokation interpretieren könnte. Ich halte ja meine Schnauze – schon gut. Mein verstörtes Gewissen arbeitet innerhalb dieser Mauern auf Hochtouren. Ich wage es nicht, schneller zu atmen, wenn ich ein aufgeregt bin – mein Herz schneller schlägt – oder ich Furcht vor den kommenden Tagen habe. Ich muss mich zusammenreißen, unauffällig sein, brav wie ein Kind. Ich spüre, immer mehr wie das eingeschüchterte Kind in mir erwacht. Nachts kann ich ohne Licht nicht mehr schlafen. Träume bohren sich in mein Unterbewusstsein, wiederholen sich ständig wie eine endlose Videoschleife.
Warum bin ich eigentlich hier? Was wird mir angelastet? Ich habe keinen Menschen getötet oder gequält. Nicht gestohlen, nicht gefaulenzt, ich habe niemanden getäuscht oder verraten.
Die Schritte kommen näher. Gleich ist er da, der Wärter. Hoffentlich hat er sich wenigstens nach seinem Schiss die Hände gewaschen.
Ach ja, übrigens, die Schritte meiner Frau, die sind – oder waren – häufig sehr leicht und federnd. Ihr Gehen war zwar auch energisch und zielstrebig aber hoffnungsvoll. Der Auslöser für eine schöne Erwartung. Ein gutes Gefühl auf Wärme, Menschlichkeit, Zuversicht, Gerechtigkeit, Nähe.
Diese kommenden Schritte dagegen sind entseelt, maschinenhaft, gesteuert von fehlgeleitetem Denken.
Jetzt geht gleich die Tür auf oder wird es nur die eiserne Luke sein, wodurch mich ein graublaues Auge prüfen wird.
Schlüssel rasseln, werden hin und her geschlenkert, ein Schloss wird geöffnet. Es stinkt in meiner Zelle nach Fäkalien, nach Unrecht, nach Wahnsinn, nach Zerstörung. Die Tür wird entriegelt, schwingt kreischend auf.
Ich stehe in der hintersten Ecke des kleinen fensterlosen Raumes, reumütig, warum nur? Stehen ist besser in diesen Sekunden. Mein Essgeschirr habe ich in die Nähe der Tür geschoben. Ich darf ihm nur nicht das Gefühl geben, dass er mich etwa bedient. Wäre das der Fall, könnte er mich schlagen, wie gestern, als ich ihn scheinbar angelächelt habe. Dabei war es nur ein irritierter Muskel, der meinem Mienenspiel ein verirrtes Lächeln in die Mundwinkel gezerrt hatte.
Und jetzt stehe ich weit – für meine Begriffe – sehr weit hinten im Raum. Die Tür geht auf, ein gleißender Lichtschein kippt in mein Zimmer, wirft einen goldenen Strich gegen die nasse Wand. Ich könnte jetzt lächeln – aber ich darf nicht. Dann grinst dieses Monstrum von Mann. Kann das wahrhaftig eine menschliche Stimmung sein? Wie sieht ehrliches Lächeln noch aus? Verunsichert erwidere ich es nicht und dafür tritt er mir mit seinem Stiefel in den Arsch. Ich verliere den Boden unter den Füssen. Mein Gesicht fällt in den Dreck.
Was habe ich nur getan, warum bin ich in diesem Verlies? Wie lange vegetiere ich hier?
Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich bin ein Jahr, neun Monate, drei Wochen, drei Tage und unzählige quälende Sekunden hier.
Die Tür wird zugeknallt. Schlösser und Schlüssel rasseln, sie klirren metallisch machtvoll feindlich. Energische, selbstgefällige Schritte entfernen sich auf dem Flur.
Wieder allein.
Jetzt weiß ich, warum ich hier bin. Ich hatte es beinahe vergessen, weil der Grund meiner Demütigungen und Einkerkerung so unfassbar ist.
Ich habe, wenn ich mich erinnere, nur einmal auf der Straße leise aber hörbar – und zu Recht – „Ich bin ein Mensch“ gesagt.
Ich erkenne meinen Fehler heute und weiß das.
Ich sagte es viel zu leise, zu leidenschaftslos – ohne Überzeugung, ohne Kraft. In diesen Sekunden rufe ich es erneut in diese manchmal so uneinsichtige Welt hinaus.
Ich bin ein Mensch – wir sind alle Menschen!

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