Die kleine Anna, die alte Kuh und der große Krieg

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Spätherbst 1943. Nachtzeit auch über dem einsam gelegenen Schwarzwald Bauernhaus. Mit seinem weit vorkragenden und an den Seiten tief herunter reichenden Dach, das mit Holzschindeln bedeckt ist. Die Menschen, die Rinder und das Federvieh, auch die Schweine schlafen. Nur die Eule auf dem Dachfirst wacht. Sie lauert auf Beute. Der Krieg scheint weit entfernt zu sein. Die Ruhe ist jedoch trügerisch. In großer Höhe ziehen Bombengeschwader ihre Bahnen. Dunkel brummend. Man hört und sieht sie. Tags und nachts. Niemand kennt den Bestimmungsort ihrer tödlichen Fracht. Meistens trifft es die größeren Städte. Bitte nicht meine, hofft Anna. Nicht allzu weit von dem Hof entfernt liegt ein großer Stausee. Wenn die Bomben die Talsperre des Sees treffen, kann es verheerende Überschwemmungen geben. Darüber wird mit Sorge gesprochen. Die Bäuerinnen des Hofes tragen dunkle Kleider unter ihren Schürzen. Selbst ihre Kopftücher sind schwarz. Und die Augen sind rot verweint. Sie trauern um ihre Gefallenen. Helles Lachen ist kaum zu hören. Wie soll es weitergehen ohne die Männer? Die Lehrerfamilie, die im September mit zwei Kindern den Urlaub auf dem Hof verbracht hat, ist mit dem dreijährigen Sohn eines frühen Morgens wieder nach Hause gefahren. Die siebenjährige Anna haben sie im Schwarzwald zurückgelassen. Wegen der Bombenangriffe, vor denen sie ihre Älteste bewahren wollen. Und weil die Familienmutter von den Anforderungen des Kriegsalltags in der Großstadt überfordert ist. So haben sie es der alten Bäuerin Magda erklärt. Aber nicht ihrer Tochter. Als Anna aufwacht, sind sie nicht mehr da. Das ist ein schockierendes Erlebnis für sie. Bisher war sie noch keinen Tag von ihrer Familie getrennt. Das allein gelassene Mädchen schläft weiterhin in dem abseits gelegenen Haus, das sie vor kurzem mit Eltern und kleinem Bruder bewohnt hat. Zu den drei Mahlzeiten läuft sie ins Haupthaus. Annas Lieblingsgetränk ist die sahnig schmeckende, noch melkwarme Kuhmilch, davon kann sie nicht genug bekommen. Zuhause gab es kriegsbedingt nur bläulichweiße Magermilch, die sie nicht mochte. Morgens und mittags sitzt sie während des Essens auf der Stufe des großen Kachelofens, der auch Kunscht genannt wird. Von der Küche aus wird er beheizt und erwärmt die Wohnstube und die Schlafzimmer im Obergeschoss. Auf der Kachelofenstufe zu sitzen ist für Anna ein Genuss. Vor allem wegen der Wärmung von unten. Dort hockt auch fast immer ein zitternder zahnloser Familiengroßvater. Er ist der einzige verbliebene Mann auf dem Hof. Wenn er nicht grade schmatzend eine Suppe schlürft oder an einem Brot knabbert, schnitzt er an einem Stöckchen. Der uralte Mann hustet viel und spricht wenig. Er hört und sieht nicht mehr gut. Das Mädchen aus der Stadt beobachtet den merkwürdigen Mann genau. Sie wundert sich über ihn. Er ähnelt ihrem eigenen stets perfekt gekleideten Großvater so gar nicht. Der auf feines Sprechen achtet und niemals in der Nase bohrt. Neben dem Greis liegen meistens zwei fette getigerte, leise schnurrende Kater mit halb geschlossenen Augen. Sie sind hervorragende Mäusejäger. Wenn Anna sie streichelt, wird das Schnurren lauter. Abends versammeln sich die Hofbewohnerinnen um den großen runden Tisch in der Wohnstube. Anna darf mit am Tisch sitzen. Nur der Großvater bleibt vor sich in mümmelnd auf seinem warmen Ofenplatz. Vor Beginn der Abendmahlzeit wird lange gebetet. Und danach beim Geschirr Spülen und Abtrocknen, an dem sich Anna beteiligt, noch einmal. Monoton werden die immer gleichen Worte gesprochen. In der lateinischen Sprache, die ihr von zuhause vertraut ist. Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Jesus. Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae. Amen. Das Mädchen kann die unverstandenen Worte im Nu auswendig und murmelt sie mit. Ohne Überzeugung, das Ganze ist ihr fremd, zu fromm und zu lang. Beim Essen wird wenig gesprochen. Und in einem merkwürdigen Deutsch, das Anna kaum versteht. Die Mahlzeiten sind dem Mädchen wichtig, weil es dann unter Menschen ist. Der Schreck, von der Familie verlassen worden zu sein, sitzt tief. Er beherrscht ihre Tage. Vor allem aber ihre Nächte. Sie fragt sich grübelnd, warum haben sie mir das angetan. Warum durfte ich nicht mit nach Hause fahren, wie der kleine Bruder. Warum haben sie vorher nicht mit mir darüber gesprochen. Sie hätte sich schreiend widersetzt, das weiß sie. Es hätte ihr wenig geholfen, das weiß sie auch. Etwas anderes als sich zu fügen bleibt ihr jetzt nicht. Tagsüber geht es ja noch. Wenn die Stimmung zu kippen droht, kann sie Bertha besuchen. Die alte Kuh, die nicht mehr auf die Weide geschickt wird. Weil sie keine Milch mehr geben kann. Sie steht Tag und Nacht alleine im Stall. Bertha geht es ähnlich wie mir, denkt Anna, sie ist ausgegrenzt. Ohne Verbündete in schwieriger Zeit. Wenn das Kind Kummer hat, geht es in den Kuhstall. Rückt den mit Moos überwachsenen Melkschemel vor Berthas Vorderhufe. Klettert darauf und ist so mit ihrer Freundin fast in Augenhöhe. Anna legt ihre Arme um den Hals des alten Tieres. Streichelt das faltige Fell. Die Kuh lässt es sich gefallen und gibt ein langes Muh von sich. Das erscheint Anna wie Zustimmung. Sie flüstert in das Fell hinein. Erzählt alles, was ihr auf der Seele liegt. Danach geht es ihr besser. Am schlimmsten ist es abends nach der Mahlzeit. Bei schon beginnender Dunkelheit läuft sie über die kleine Brücke, die den schmalen Bach überspannt und zum Ferienhaus führt. Betritt das Haus zaghaft. Stellt sich auf die Zehenspitzen, um den Lichtschalter zu erreichen. Schaltet die schwache Glühbirne im Treppenhaus ein. Setzt sich noch einmal auf’s Plumpsklo. Pinkelt sich leer, damit sie in der stockfinsteren Nacht ihr Zimmer nicht mehr verlassen muss. Dann steigt sie die steile schmale Stiege mit den knarrenden Stufen hoch. Im Obergeschoss angekommen löscht sie das Flurlicht. So hat es ihr die alte Bäuerin befohlen. Anna begibt sich in das kleine Zimmer, das jetzt ihres ist. Bestückt ist es mit einem alten Waschtisch mit Geschirr. Einem klapprigen eintürigen nach bäuerlicher Art bemalten Schrank. Und mit einem hohen dunkelbraunen Holzbett mit gelblich

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Kommentare

Detmar Roberts
11. Okt 2016

Eine berührende authentische Geschichte. Danke dafür.
D.R.

11. Okt 2016

Vielen Dank für deine Zuschrift, Detmar. LG Marie

11. Okt 2016

Eine sehr eindrucksvolle und detailliert beschriebene Erzählung, die durch großes Einfühlungsvermögen in ein kleines Mädchen während des Krieges besticht. Eine Ahnung, hier könnte Selbsterlebtes festgehalten worden sein, lässt mich nicht mehr los. So lebendig und bis ins kleinste Detail hinein schildert die Autorin die Seelenlage des Kindes. Beeinduckend!
LG Monika

11. Okt 2016

Nicht unbedingt Selbsterlebtes, aber aus sehr vertrauter Quelle Erfahrenes.
Danke für deine Zuschrift, Monika. Liebe Grüße Marie

12. Aug 2020

Eine mitnehmende Geschichte aus den schlimmen, letzten Kriegsjahren. Erinnerungen kamen hoch.
1943 bin ich geboren. Flucht aus Polen Anfang Januar 1945. Am 15. Mai kam meine Familie in einem Bauerndorf in Nordbayern unter.
Von 48 bis 51 war ich im Sommer Tageskind und Kuhhirte bei einem lieben Bauernpaar. Die ersten Jahre in Düsseldorf machten mir zu schaffen.
Schön, dass Deine Erzählung nun unerwartet hier auftauchte, Marie.

Herzliche Grüße
Willi

16. Aug 2020

Über Dein Eingehen auf meine Geschichte freue ich mich besonders, lieber Willi, danke. Wir haben beide als Kinder schlimmes lebenslänglich Prägendes erlebt im Krieg, Du die Flucht, ich die Verschickung zu mir fremden Menschen. Alles in allem aber hatten wir dennoch Glück – wir haben in den Nachkriegsjahren gelernt, mit wenig auszukommen, das hilft mir lebenslänglich, und später ging es aufwärts mit unserer Generation, man schaute mit Hoffnung in die Zukunft; ganz anders als heute zu Zeiten von weltweiten Pandemien, sterbender Natur, wachsender Plastikinseln in den Meeren, uneinsichtiger egozentrischer Potentaten, sich selbst bespiegelnder Menschheit, steigender Aufrüstung und einer großen Verunsicherung, was die Zukunft betrifft. Das allgemeine Waldsterben trifft uns besonders, wir sind so eng verbunden mit unseren Bäumen. Dennoch sollte man versuchen, Optimist zu bleiben und sich bemühen, wenigstens im eigenen Umfeld zu tun, was nötig ist.

Sei herzlich gegrüßt - Marie

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