Die kleine Anna, die alte Kuh und der große Krieg - Page 3

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Wahnsinn. Verbrecher sind die alle. Die Nazis. Dann dreht sie sich um und verschwindet humpelnd in der Dunkelheit. Und lässt das Mädchen sprachlos und verzweifelt zurück. Anna schleicht sich nach einer Weile unbegleitet in ihr Häuschen zurück. Und findet keinen Schlaf bis zum Morgengrauen. Auch in den folgenden Nächten schläft sie kaum. Es sind zu viele traurige, aber auch wütende Gedanken in ihrem Kopf. Ich habe es doch gewusst. Es musste so kommen. Jetzt sind sie nicht mehr da. Auch der Dackel ist tot. Völlig allein bin ich jetzt. Das ist so ungerecht. Das Beten hilft nicht mehr, sie lässt es sein. Blöder lieber Gott, schimpft sie. Du erlaubst Kriege. Passt schlecht mich auf. Hörst mich sowieso nicht. Dich gibt’s überhaupt nicht. Auch tapfer will sie nicht mehr sein. Sie weint jetzt jede Nacht, stundenlang. Lässt den Tränen freien Lauf. Schluchzt laut, wenn ihr danach ist. Dieses Weinen erleichtert sie. Im Grunde ihres Wesens ist Anna jedoch eine Kämpferin. Sie gibt nicht auf, beginnt nach Wegen aus dem Unglück zu suchen. Macht es sich zur Gewohnheit, tagsüber viel Zeit am Bach zu verbringen. Da gibt es einen großen runden Stein. Auf den setzt sie sich und denkt an die Menschen, die vielleicht noch leben. An Tante Emma. Oder ihr liebes Frollein. Mit viel Glück könnten wenigstens sie den Krieg überleben. Dann ziehe ich zu einer von den beiden, denkt sie. Anna schöpft erneut Hoffnung. Singt wieder ihre Lieder. Laut und trotzig. Hört ja sowieso keiner. Maikäfer flieg. Dein Vater ist im Krieg. Deine Mutter ist in Pommernland. Pommernland ist abgebrannt. Maikäfer flieg. Sie sagt sich auch das lustige Gedicht auf, das sich die Kinder bei Bombenangriffen im Bunker zugeflüstert haben. Achtung Achtung, Ende Ende! Überm Kuhstall Kampfverbände. Über’m Schweinestall flieg’n Jäger. Morgen kommt der Schornsteinfeger. Mit der Leiter unter’m Arm Achtung, Achtung – Vollalarm. Vater, Mutter renn’ in’ Keller. Und die Kinder noch viel schneller. Und die Oma hinterher. Ach, was ist der Koffer schwer. Anna lacht laut beim Aufsagen. Im Stall redet sie noch öfter mit Bertha. Streichelt deren kratziges Fell. Liebe Kuh. Jetzt hör mir bitte zu. Die ich am allerliebsten habe, die leben nicht mehr. Ich fürchte mich so. Sag mir, was soll ich tun? Die alte Kuh muht wieder. Nach und nach heult Anna ihren Kummers aus sich heraus. Traurig, aber auch etwas zornig denkt sie, ihr habt mich verstoßen, verlassen. Jetzt suche ich mir meinen eigenen Weg. Ohne euch. Trauer und Verzweiflung lösen sich langsam auf, genau wie die Furcht vor Dieben und Einbrechern. Vor dem bösen schwarzen Kohlenklau. Sie beginnt, sich in ihrer neuen Welt einzufinden. Die dunklen Tage des folgenden sehr strengen Winters verbringt sie zum großen Teil mit dem Großvater und den Katern auf der warmen Ofenbank. Nachts schläft sie im dicken Trainingsanzug über dem Flanellnachthemd. Zum Glück haben die Eltern ihr warme Winterstiefel, Fäustlinge, eine wollenen Pudelmütze und einen dicken Wintermantel dagelassen. Und die alte Bäuerin Magda schenkt ihr einen langen dicken Schal. Von meinem toten Mann, sagt sie. Der braucht ihn nicht mehr. So muss sie auch draußen nicht frieren. Wenn sie morgens aufwacht, beobachtet sie staunend ihren weißen Atemhauch im Zimmer. Und die schönen Muster der Eisblumen, die das kleine Fenster ihrer Schlafkammer bedecken. Im Januar ist der Bauernhof vollständig eingeschneit. Morgens wird Schnee geschoben, auch Anna packt mit an. Den Zugang zu ihrem Häuschen schippt sie sich selber frei. Dafür bekommt sie von der alten Bäuerin ein Lob und ein Lächeln. Anna baut sich einen großen Schneemann direkt vor dem Bauernhaus. Mit Kohlenaugen und Möhrennase und Besen in der Hand. Sie hat ein tolles Buch in einem verstaubten Regal entdeckt. Sagen aus dem Schwarzwald. In Ermanglung anderer Lektüre verschlingt sie die Geschichten. Vom buckligen Männlein in Langenalb. Vom Mutesheer. Vom weißen Fräulein von Fautsburg. Vom Mühlknecht und den Hexen. Vom Schorchengeist. Die Bäuerin kennt die Geschichten, lässt sich manchmal eine vorlesen. Dann darf Anna ganz dicht bei ihr setzen. Dabei legt Magda auch endlich beschützend den Arm um ihre Schulter. Darüber freut sich das Mädchen sehr. Abends kommt die Alte jetzt öfter rüber ins Ferienhaus und singt mit der Kleinen. Oder erzählt ihr etwas in ihrem Dialekt, den Anna jetzt versteht. Das Kind aus der Großstadt beginnt, sich immer mehr als Schwarzwälder Bauernmädchen zu betrachten. Das Gefühl der Fremdheit verschwindet ganz. Sie übernimmt kleine Pflichten auf dem Hof. Sammelt abends die Eier ein, die eine der Hennen in eine bestimmte Ecke der Scheune legt. Sie darf helfen, die Hühner zu füttern. Der Hofhund knurrt sie nicht mehr an. Die Kater schmiegen sich an ihre Beine. Ihre eigenen, wahrscheinlich toten Angehörigen geraten in den Hintergrund. Die allgemeine Trauer weicht einer neuen Freude am Leben. Anna wird in der Dorfschule angemeldet. Der Weg dorthin ist weit. Vierunddreißig Kinder von sechs bis 14 Jahren werden in einem Klassenraum unterrichtet. Alle außer Anna sind katholisch. Der strenge alte Lehrer schlägt die Kinder mit dem Lineal auf die Finger. Anna wird anfangs nicht geschlagen, aber auch sonst nicht beachtet. Weil sie nicht katholisch ist. Das Mädchen versteht das nicht. Sie kann doch jetzt das Kreuz schlagen. Und getauft ist sie auch. Als sie einmal ihre Hausaufgaben nicht erledigt hat und der Lehrer sie deshalb mit dem Lineal leicht auf die Finger schlägt, lächelt Anna. Obwohl es schmerzt. Jetzt bin ich eine von ihnen, denkt sie froh. Sie gewöhnt sich an diese andere Art von Schule. Anna zieht in das große Bauernhaus, in das Zimmer des ältesten gefallenen Sohnes. Sie denkt nicht mehr an ihre frühere Familie. So vergehen ein gutes Frühjahr, ein heißer Sommer und ein Herbst, in dem sie den Frauen beim Einbringen der Ernte hilft, so gut sie kann. Im kommenden Winter legt sich die Bäuerin mit einer Grippe ins Bett. Anna hilft ganz selbstverständlich beim Gesundpflegen. Sie fühlt sich jetzt als Kind im Haus. Vom wirklichen Verlauf des letzten Kriegsjahres erfährt das Mädchen durch die Nachrichten des verbotenen Senders BBC, den die alte Magda angstfrei abhört. Der nächste Hof liegt weit genug entfernt. Mit der Bäuerin, die sie inzwischen mit dem Vornamen anspricht, fühlt sie sich verbunden wie mit einer lieben Großmutter.
Am 8. Mai 1945 ist der Krieg endgültig beendet. Anna und Magda hören es gemeinsam in den Nachrichten aus dem Volksempfänger. Es berührt das Mädchen nicht. Weil sie keine eigene Familie mehr hat. Hier ist ihr neues Zuhause, das denkt und hofft sie. Anna möchte auf dem Bauernhof bleiben. Alle Ängste sind verschwunden. Ende Mai 1945 fährt eines Vormittags ein Ungetüm von Auto im Hof vor. Eins mit einem runden Ofen am Heck, einem Holzvergaser, der den Wagen in Zeiten des Benzinmangels antreibt. Ein schwarz verrußter Mann steigt aus und klopft an die Türe. Magda bittet ihn ins Haus. Hallo, Anna, wie geht es dir? fragt der Fremde. Der schwarze Mann wäscht sich, und das Mädchen erkennt den Nachbarn, den Harald, den sie eigentlich mag. Harald erzählt ihr, dass die Eltern und die Geschwister noch leben. Und dass er sie nachhause holen will. Anna ist nicht begeistert. Sie fühlt sich im Schwarzwald bei der alten Magda daheim. Sie möchte nicht schon wieder alles verlieren und neu beginnen müssen. Genau das würde sie dem Harald gerne gestehen. Das wagt sie aber nicht. Also packt sie ihre wenigen Sachen in den Rucksack. Anna weint bitterlich, als sie sich mit einer langen Umarmung von der alten Bäuerin verabschiedet. Auch Magda stehen die Tränen in den Augen. Pass gut auf dich auf, meine Anna. Und vergiss mich nicht.
Nach und nach gewöhnt sich Anna wieder an ihr altes Zuhause. An ihre Familie, an das Leben nach dem großen Krieg. An das Leben in der Stadt. Die Beziehung zur alten Magda aber pflegt sie weiter. Bis zu deren Tod wechselt sie herzliche Briefe mit ihr. Wenn sie an ihre Zeit im Schwarzwald denkt, spürt sie heute noch so etwas wie Heimweh.

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Kommentare

Detmar Roberts
11. Okt 2016

Eine berührende authentische Geschichte. Danke dafür.
D.R.

11. Okt 2016

Vielen Dank für deine Zuschrift, Detmar. LG Marie

11. Okt 2016

Eine sehr eindrucksvolle und detailliert beschriebene Erzählung, die durch großes Einfühlungsvermögen in ein kleines Mädchen während des Krieges besticht. Eine Ahnung, hier könnte Selbsterlebtes festgehalten worden sein, lässt mich nicht mehr los. So lebendig und bis ins kleinste Detail hinein schildert die Autorin die Seelenlage des Kindes. Beeinduckend!
LG Monika

11. Okt 2016

Nicht unbedingt Selbsterlebtes, aber aus sehr vertrauter Quelle Erfahrenes.
Danke für deine Zuschrift, Monika. Liebe Grüße Marie

12. Aug 2020

Eine mitnehmende Geschichte aus den schlimmen, letzten Kriegsjahren. Erinnerungen kamen hoch.
1943 bin ich geboren. Flucht aus Polen Anfang Januar 1945. Am 15. Mai kam meine Familie in einem Bauerndorf in Nordbayern unter.
Von 48 bis 51 war ich im Sommer Tageskind und Kuhhirte bei einem lieben Bauernpaar. Die ersten Jahre in Düsseldorf machten mir zu schaffen.
Schön, dass Deine Erzählung nun unerwartet hier auftauchte, Marie.

Herzliche Grüße
Willi

16. Aug 2020

Über Dein Eingehen auf meine Geschichte freue ich mich besonders, lieber Willi, danke. Wir haben beide als Kinder schlimmes lebenslänglich Prägendes erlebt im Krieg, Du die Flucht, ich die Verschickung zu mir fremden Menschen. Alles in allem aber hatten wir dennoch Glück – wir haben in den Nachkriegsjahren gelernt, mit wenig auszukommen, das hilft mir lebenslänglich, und später ging es aufwärts mit unserer Generation, man schaute mit Hoffnung in die Zukunft; ganz anders als heute zu Zeiten von weltweiten Pandemien, sterbender Natur, wachsender Plastikinseln in den Meeren, uneinsichtiger egozentrischer Potentaten, sich selbst bespiegelnder Menschheit, steigender Aufrüstung und einer großen Verunsicherung, was die Zukunft betrifft. Das allgemeine Waldsterben trifft uns besonders, wir sind so eng verbunden mit unseren Bäumen. Dennoch sollte man versuchen, Optimist zu bleiben und sich bemühen, wenigstens im eigenen Umfeld zu tun, was nötig ist.

Sei herzlich gegrüßt - Marie

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