WIE NICK FREUND JEAN-PAUL BEFRAGT

Nick starrte in den Fluss. Seine Beine schmerzten. Er stand regungslos und sah die Wellen an sich vorbeiziehen.
>Das Grausamste, was einem Menschen passiert, ist seine Geburt. Er wird ungefragt in diese Welt geworfen.<
Früher hatte Nick Jean-Paul Sartre gelesen. Hatte ihn wohlwollend gelesen, das heißt, er fühlte Übereinstimmung mit dessen Thesen.
>Tja, Jean-Paul, mich hat’s umgeworfen.<
Nick roch das winterliche Eisflirren. Es waren winzige Kristalle in der Luft. Sie setzten sich in die Härchen seiner Nase.
>Und, wie soll es nun weitergehen mit mir?<
Nicks Frage an Sartre blieb unbeantwortet. Nick streckte seinen alternden Körper. Die Sonne stand hoch. Sie zeigte ihren weißkalten Dezemberglanz. Immer noch schmerzten seine rheumatischen Beine.
>Der Mensch ist nichts anderes als ein Entwurf. Er existiert nur in dem Maße, in welchem er sich verwirklicht. Er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.<
Jean-Paul, was mache ich mit 70 Jahren Sinnlosigkeit? Nick starrte in den Fluss. Mit sanfter Gewalt strömte er dahin. Ein strampelndes, sich wehrendes Insekt wurde hinfort getragen.
>Was um alles in der Welt macht dieses Insekt hier in der Kälte des Winters<, wunderte sich Nick. Er schaute dem Drama nach, bis seine Augen das Tier auf der Wasseroberfläche nicht mehr erkennen konnten.
>Dam’nd. Das bin ich<.
Nick fröstelte. Die Sonne ließ Lichtpunkte über den Fluss springen.
>Jean-Paul. Ich war ein Springer. Ein elender Springer.<
Das Wasser trug unbeirrt den Seufzer des alternden Mannes fort. Sein Gedächtnis funktionierte nicht mehr nach seinen Wünschen. Wie hießen sie noch? Susi? Rosi? Annelie? Was sagen Namen schon aus? Susi? Es gab genau drei dieses Namens. Nick war dankbar für diesen Rückblick. Erinnern tut bisweilen weh. Da macht der Kopf Purzelbäume. Da wird das Gehirn durchgerüttelt. Das tut nicht gut.
Nick bückte sich und hielt die Hand ins eiskalte Wasser. Das war weich, nachgiebig, umspülte den Widerstand und suchte ihn fortzuziehen im stetigen, unhaltsamen Drang der Bewegung.
>Spring! Feigling! Spring!<
Nick hörte genau hin. Dieses Rauschen, Raunen, Drängen.
>Spring!<
Wenn schon das Wasser zu ihm sprechen kann, muss doch etwas mit seinem Kopf nicht stimmen.
>Was ist der Mensch? Nur die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.<
Nick richtete sich auf. Massierte die schmerzenden Beine. Sah zum diesigblauen Himmel. Dachte an gestern, den Tag seiner Niederlage, den 13. Dezember.
>Was machst du für eine Theater wegen solcher Lappalie<, meinte Irmgard beiläufig und tätschelte ihm das lichte Haar.
>Geh nach Hause, Nick. Genieß deinen Lebensabend.<
Wie hießen sie noch? Viermal Rosi? Oder wie war das noch? Nick erinnerte sich an Gerüche, an Berührungen, an gehauchte Worte. Schreien war Musik mit unzähligen Melodienfolgen. Und immer wieder neue Essenzen, Abenteuer. Haut auf Haut. Zart, rauh, bisweilen faltig, hornig, fettgepolstert. Unvergessen. Doch Namen?
>Geh nach Hause, Nick.<
Nick steckte seinen Gummiüberzieher unverrichteter Dinge wieder ein und ging. Die Türe schlug hart hinter ihm zu. Seine Schritte waren voll zorniger Vitalität.
Brütende Schlaflosigkeit. Resignation.
>Und wie soll es nun weitergehen, Jean-Paul? Du hast Erfahrung. Wenn nicht du, wer dann?<
Bleierner Schlaf in den Morgenstunden. Dann ein schamloses Blitzen der Sonne hinter gelben Gardinen. Winterkalte Sonne. Der Gang zum Fluss.
Sonne am Fluss.
Nick sah durch den diesigdunstigen Mittagsschleier den vitalen Flügelschlag eines Vogels, der in Richtung Sonne aufstieg. Kräftiger und rascher gingen die Flügel auf und ab und auf und ab.
Nick’s Blick folgte diesem Spiel aus Leichtigkeit und Licht bis zum Horizont. Punkt in Punkt der tanzenden Moleküle. Nick atmete tief ein und aus.
>Ist es das, was du Leben nennst, Jean-Paul? Ist es das?<
Er zog dieses Etwas, das immer als Möglichkeit in seiner Tasche steckte, hervor. Dieses kleine Gummisäckchen. Nick steckte das offene Ende in seinen Mund und blies mit aller Kraft hinein. Er blies gegen den Widerstand der gesicherten Gummiwand. Langsam nahm das Säckchen Gestalt an und gab seine Möglichkeit preis. So viel Luft ging hinein, aus dem Säckchen wurde ein beachtlicher Ballon. Selbstvergessen machte Nick am Ende einen Knoten. Er warf den Ballon in die Luft, in die leichte Brise über dem Fluss. Der Ballon tanzte über das Wasser, hüpfte einige Male auf der Wasseroberfläche, als wolle er sanfte Küsse verteilen, wurde dann vom stetigen Strom hinweg getragen.
Und es war, als würde Nick von einem Zwang befreit, von einer ständigen Herausforderung erlöst.
>Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.<
Nick hatte einen neuen Freund. Der hieß Hermann. Hermann Hesse. Nick fühlte sich zum ersten Mal seit langem frei. Er war befreit. Befreit von einem ständigen Leistungsdruck. Was bedeutet Leben? Beinhaltet Leben Würde. Ist Würde Freiheit? Nick hatte das Gefühl, als würde eine Bürde von ihm abfallen.
Das Raunen des Wassers war freundlich geworden. Irgendwie freundschaftlich. Es war ein eisigkalter Tag. Doch Nick spürte genügend Wärme in Höhe des Herzens.

Veröffentlicht / Quelle: 
Publ. 2005 in Freiheit Anthologie 2005
Prosa in Kategorie: 
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