Gefährlicher Sommer (Teil 9) - Page 3

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von Annelie Kelch

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verzichten können. Wortkarg und mürrisch ist er ge­wesen, dermaßen unausstehlich, dass uns die gute Ferienlaune gründlich verdorben war.
Das liegt nun auch schon ein paar Jahre zu­rück. Opa hat neulich erzählt, dass Helge auf dem Hof wie ein Berserker schufte und Knut während der Semesterferien immer eine große Hilfe gewesen sei. Ich habe mir über sein Verhältnis zu Axel Kröger ziemlich viel Gedanken gemacht; denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die beiden gut miteinan­der aus­kommen. Die Gnädigste scheint über Helges Einsatz mächtig froh zu sein, obgleich sie mitunter den Eindruck erweckt, als traue sie ihm nicht so recht über den Weg. Bei Tante Agnes ist es mehr als augenscheinlich, dass sie Helge nicht leiden kann. Die beiden sind wie Hund und Katz. Sie wird dir sicherlich erzählt haben, dass Helge das Stiefkind der Gnädigsten ist, der Sohn aus Herrn Brand­ners erster Ehe.

Der Lachauer Forst, der sich um das Dorf schmiegt, lag vor uns wie ein mächtiger grüner Gott, und wir bo­gen in den großen Waldweg, froh darüber, die grellgelbe Mittagssonne losgewor­den zu sein, die uns im Nacken gesessen hatte. Ich fuhr voraus, hatte mich wortlos an die Spitze unserer kleinen Stahlka­rawane gesetzt, und dirigierte uns konsequent gen Osten. Haargenau hier muss­te Knut an jenem Freitag entlang­gewandert sein. Unwillkürlich hielt ich nach Spuren Ausschau, obgleich es mehr als unwahr­scheinlich war, nach so langer Zeit noch brauchbares Beweis­material zu ent­decken.

Es war einfach herrlich, durch den Gutsforst zu radeln, und Konny meinte, er sei noch nie in einem schöneren Misch­wald gewesen.
„Gibt es hier auch Wildschweine?“, fragte Kora.
„Nein, aber massenhaft Dinosaurier“, erwiderte Hannes mit tod­ernstem Gesicht.
Konny drehte sich um und warf Hannes einen ärgerlichen Blick zu, während Kora ihr Vehikel mit quietschenden Bremsen zum Stehen brachte und abstieg.
„Keine zehn Pferde bringen mich auch nur einen schlap­pen Meter weiter, wenn hier Wild­schweine hausen“, piepste sie und stieß wie zur Bekräftigung die Spitze ihres rechten weißen Halbschuhs in das weiche Moos. Ihre hellblauen Augen blitzten entschlossen. Sie hielt die Lippen fest zu­sammengepresst und funkelte uns der Reihe nach an.
„Schwesterherz“, begann Konny mit ruhiger, überaus geduldiger Stimme, nachdem er tief Luft geholt hatte. Es klang, als würden Erläuterungen in epischer Breite folgen, und mir kamen erhebliche Zweifel, dass wir den Kiesteich vor Sonnenuntergang erreichen würden.
„Wildschweine attackieren uns Menschen nur, wenn sie sich be­droht fühlen. Nur dann sind die Bachen leicht reizbar. Für unsere Wälder sind diese Tiere sehr nützlich, weil sie schädliche Insekten vertilgen und den Waldboden auflockern. Außerdem haben sie einen ausgeprägten Familiensinn; sie kämpfen einzig und allein, wenn sie glauben, dass ihr Nachwuchs in Gefahr sei.“
Ich beeilte mich, Kora zuzu­nicken. „Konny hat Recht. Lasst uns weiter­fahren. Du kannst ja neben mir blei­ben.“
„Na ich weiß nicht so recht“, mischte Hannes sich ein.
„Die Schwarz­kittel gehen doch auf jeden los, der ihnen in die Quere kommt, so angriffslustig und unberechenbar wie die sind.“ Er grummelte und grunzte wie eine reizbare Bache. „Also wenn die in Panik geraten und im Schweinsgalopp daherkommen, dann bebt der Lachauer Forst, das kann ich euch flüstern. Und dann diese Hauer von den Keilern ...“
Kora zog ein ängstliches Gesicht und sah sich verstohlen um.
„Und außerdem fressen die Viecher unseren Mais und verwüsten die Äcker. Ich kann diese Sippschaft nicht ausstehen.“
„Halt jetzt endlich deinen Schnabel, Hannes. Du weißt so gut wie ich, dass Wildschweine nachtaktiv sind und dass sie nur bei Gefahr angreifen. Und davon mal ganz ab­gesehen: Am helllichten Tage einem Wildschwein zu begegnen, kommt einem Sechser im Lotto gleich“, fuhr Konny ihn ärgerlich an.
„Sei vernünftig Kora und lass uns endlich weiterfahren.“
„Na gut“, seufzte Kora nach einer Weile, obgleich ihr verängstigter Gesichtsaus­druck ver­riet, dass Konnys Er­klärungen sie keineswegs überzeugt hatten.
„Aber findet ihr nicht auch, dass es hier viel zu einsam und still ist? Als wir letztes Jahr mit Mutter durch den Schwarzwald gewandert sind, haben wir massenhaft Spaziergänger ...“, schob Kora hastig nach.
„Ja, ja, der herrliche Schwarzwald, so gemütlich und anheimelnd“, fuhr Hannes ihr über den Mund und verzog spöttisch sein Gesicht.
„Mannomann, Kora! Du kannst doch den Schwarzwald nicht mit dem Lachauer Forst vergleichen. Der Schwarzwald ist ein Gebirge und mindestens einhundertfünfzig Kilometer lang, ganz und gar nicht vergleichbar mit unserem provinziellen Lachauer Gehölz, in dem heute wider Erwarten 'tote Hose' ist, na und? – Stimmt's Konnymaus?“
„Ausnahms­weise hast du mal Recht, Hanneshäschen“, grinste Konny.
Wir stiegen auf unsere Räder und radelten schweigend weiter. Hannes fuhr ein ganzes Stück voraus, wartete Minuten später auf mich und flüsterte mir zu: „Hier gibt es Kreuzottern, Katja. Die sind saugiftig.“
„Ach ja?“, fragte ich amüsiert.
„In echt, Kindchen, so wahr ich lebe!“, bekräftigte Hannes seine Hiobsbotschaft, sah aber irgendwie enttäuscht aus, vermutlich, weil ich vor lau­ter Panik nicht vom Fahrrad gefallen war.
„Und massig Wölfe, in Rudeln ...“, versuchte ein unweit von meinem Ohr raunender Hannes erneut, mir Angst ein­zujagen.
„Längst ausgestorben in unseren Gefilden!“, konterte ich lachend.

Völlig unerwartet öffnete sich vor meinen hingerissenen Augen die erste Lich­tung. Zwischen Moos und spärlichem, groben Gras leuchteten die gelben und weißen Blütensprenkel von Huflattich und wilden Walderdbeeren. Ein wahrhaft lichter Ort im Vergleich zum Tannendickicht, dachte ich. Die Schnei­se lag zur einen Hälfte in der Sonne, während sich der Schatten des Waldes auf dem restli­chen Teil ausgebreitet hatte. Irgendwo tirilierte eine Lerche in den höchsten Tönen.

Ich gab mir kolossale Mühe, meine Freu­de darüber zu verbergen, dass wir dem Tatort näher gerückt waren. Hannes durfte keinesfalls hellhöriger werden, als er ohnehin schon war. Deshalb machte ich Kora auf die Blaubeerbüsche und das Himbeergestrüpp aufmerksam und schlug vor, auf dem Rückweg ein paar Früchte für das Abendessen zu pflücken.
„Sag mal, Katja, spinnst du total?“, mischte sich Konny ein. „Auf Lachau gibt es dermaßen viel Obst, dass noch nicht mal ein Drittel davon abge­erntet werden kann. Hattest du noch keine Gelegenheit, einen Blick in Lenis Speisekammer zu werfen? Bis unter die Decke stapelt sich dort das Eingemachte!“
„Stimmt haargenau“, pflichtete Hannes ihm bei.
„Lasst uns lieber die Stachelbeeren im Park pflücken. Die sind überreif und schon richtig gelb, wie winzige Aprikosen.“
„Also gut, überredet“, gab ich nach.
„Wer's glaubt“, mischte sich

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