Gefährlicher Sommer (Teil 9) - Page 4

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von Annelie Kelch

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Kora ein, „neulich schmeckten die Dinger noch der­maßen sauer, dass es einem den Mund zusammenzog – und überhaupt: wie Aprikosen. Dass ich nicht lache! Stachelbeeren und Aprikosen sind so ver­schieden wie Tag und Nacht.“
„Neulich? – Wann war denn das, Korakind? Als Tante Selma Stachelbeertorte backen wollte? An ihrem Geburtstag? Vor zwei Mona­ten?“, erkundigte sich Hannes amüsiert. Kora schnaubte verächtlich.

Der Mischwald war in einen schummrigen Nadelwald mit Kiefern, Fichten und sommergrünen Lärchen über­gegangen, die um die Wette gen Himmel wuchsen. Es duftete nach Baumharz­, frischem Moos und Pilzen. An manchen Stellen la­gerten die getrockneten braunen Tannennadeln in derart dicken Schichten auf dem Erdreich, dass unsere Fahrräder auf den weichen Kissen wippten, als ra­delten wir über ein endloses Trampolin.
„Mann, hier radelt man komfortabler als über Teppiche“, sagte Hannes.
„Bist du überhaupt schon mal mit dem Rad über einen Teppich ge­fahren?“, fragte Kora.
„Klar! Ständig! Bei deiner Mutter in der Ga­rage! Da liegt so ein rostbrauner alter Kokosläufer, mein roter Teppich“, grien­te Hannes, der gottlob nicht mehr traurig war.

Sag mal, Katja, hast du eigentlich einen Freund?“, erkundigte sich Koras und Konnys neugieriger Cousin just in dem Moment, als ich die zweite Lich­tung entdeckte. Sie war sonnig, grasbewachsen und von hohen Tannen umgeben. Dies ist der unheilvolle Weg, dem Knut in den letzten Stunden seines Lebens folgte, und zwar hundert­pro, dachte ich, und mir wurde reichlich beklommen zu­mute, aber auch ein wenig feierlich, als wäre ich meinem alten Freund ganz nah.
„Du, Katja, Hannes hat dich was ge­fragt!“, quengelte Konny hinter mir.
„Ach so, Freund“, stammelte ich nervös und dachte: Haben diese Kinder keine anderen Sorgen?
Ich drehte mich halb zu Konny um und sagte: „Es gibt da jemanden in meiner Klasse, den ich sehr gern habe.“
Mir schien, als zöge Konny ein ent­täuschtes Gesicht, aber Hannes, der flugs in die Pedale trat, um mich einzuholen, beäugte mich neugierig von der Seite.
„Na ja, er heißt Harry und ist der schönste Mann, den ich kenne", erklärte ich lässig (ganz Frau von Welt).
„Bist du sicher?“, fragte Hannes verdattert. Er schien es offenbar nicht zu verkraften, das es je­manden gab, den ich schöner fand als ihn.
Kora, die vorausgefahren war, wand­te sich um und rief: „Pah, wenn er in deine Klasse geht, ist er ein Junge und noch längst kein Mann!“ Womit sie natürlich vollkommen Recht hat, liebe Christine.
Hannes wollte auf der Stelle ein Foto sehen, aber die Aufnahmen vom letzten Klassenfest lagen zu Hause in meinem Schreibtisch. Ich hatte schlichtweg ver­gessen, ein Bildnis vom schönen Harry einzupacken; dabei wollte ich dir un­bedingt zeigen, wie er ausschaut, armes krankes Christinchen.
Voller Spannung und mit ein wenig Unbehagen lauerte ich der dritten Lich­tung entgegen. Mich hätte fast der Schlag getroffen, als Hannes mit seinem Rad ganz nah an mich heranfuhr, mir den Arm um die Schulter legte, und sagte: „Dort hinten, Katja, liegt die dritte Lichtung.“ Dabei sah er mir geradewegs in die Augen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er meine Gedanken lesen konnte.
„Ach ja, tatsächlich, da liegt ja schon die dritte Schneise. Und was hat das zu bedeuten?“, fragte ich ihn und zog wahrscheinlich ein Gesicht wie ein dummes kleines Schaf.
„Das weiß ich leider auch nicht so genau“, erwiderte Hannes und zog seinen Arm wieder fort. „Ich habe gehofft, d u würdest es mir erklären.“

Jetzt konnte der Hochsitz nicht mehr weit sein, Christine. Gleich hätten wir den Tatort erreicht, die Stätte des grauenvollsten Geschehens in der Lachauer Geschichte, wenn man von den schrecklichen Kriegen mal absieht. Mein Herz klopfte der­maßen heftig, als wäre ich ohne Hausaufgaben in die Algebrastunde gegangen. Dazu fiel mir ein, dass Meischke, unser Mathe­lehrer, erst kürzlich wieder mit unseren Arbeitsheften herumgeworfen hatte, natürlich nur mit den Vierern, Fünfern und Sechsern, also praktisch mit fast allen Heften von uns Mädchen. Eigentlich sollten sie auf unseren Tischen landen. Aber es mach­te ihm über­haupt nichts aus, wenn wir aufstehen und die Kladden vom Boden sammeln mussten, weil er nicht zielen konnte, geschweige denn wollte. Welch eine Ge­meinheit!
„So ganz allein wäre mir unheimlich hier“, bekannte Kora. Es schien, als liefe ihr bei dieser Vorstellung ein Schauer durch den Körper. Ich hatte nichts anderes von dem braven Kind erwartet.
„Untersteh dich, Schwesterchen, und fahre allein durch den Wald. Das würde i c h mich kaum trauen“, grinste Konny.
„Wetten, dass Katja sich traut? Die ist bestimmt nicht so feige wie ihr“, vernahm ich Hannes' begei­sterte Stimme. Er sah mich herausfordernd an. Ich kannte diesen Blick bereits, liebe Christine. Sein Rad begann heftig zu schlingern, als er über eine bizarre Pfahlwurzel preschte, der er nicht mehr ausweichen konnte. Er wäre fast gestürzt.
Mein Herz tat plötzlich einen gewaltigen Sprung. Mir schien, als wollte es aus meinem Körper hinaus und nach hoch oben in die Wipfel der uralten Fichte neben dem Hochsitz fliegen, der, auf einer kleinen Lichtung errichtet, aus heiterem Himmel vor uns auftauchte. Meine gleichsam furchtsamen wie verzückten Augen fixier­ten die heiß herbeigesehnte Jagdkanzel, die am Rande der etwa dreißig Schritt breiten und sechzig Schritt langen Schneise einsam und verlassen in den Himmel ragte. Der kerzengerade Stamm einer Lärche stützte den windschiefen, ziemlich baufälligen Ansitz. Ein wilder Jasmin, der neben der Sprossenwand wuchs, erfüllte die Rodung mit dem süßlichen Duft seiner gelben Blüten.
„Hier machen wir Rast“, beschlossen Hannes und ich wie aus einem Munde. Konny sah uns überrascht an. Dann schüttel­te er verständnislos den Kopf und zuckte mit den Schultern.
„Ich brauche jetzt dringend eine Pause“, tat ich leichthin und ließ mich behutsam auf das struppige, blässliche Gras in der Nähe der Kanzel fallen. Hoffent­lich ist Knut nicht an dieser Stelle gestorben, dachte ich aufgeregt und sah mich verstohlen nach Blutflecken im Gras und auf der Er­de um. Als ich nichts dergleichen entdecken konnte, beäugte ich wie beiläufig und mit gleichgültiger Miene das abenteuerliche Bauwerk. Es war gut und gern vier Meter hoch und hatte eine Sitzfläche von ungefähr einem Meter fünfzig im Quadrat. Etliche Holzverstrebun­gen waren abgesplittert und hingen lose herun­ter. Das Wrack machte einen unheimlichen, fast geisterhaften Eindruck. Weshalb nur war Knut dort hinaufgeklettert? Ringsumher wucherte ruppiges, fahles Gras, das leblos herabhing und neben dem Fundament der Jagdkanzel niedergetreten war. Es sah aus, als sei es durch den Verdauungstrakt einer Milchkuh gewandert.
Auf dieser Bretterruine hatte der arme Knut gesessen – wie auf einem Präsen­tierteller. Ich stand kurz vor einer Panikattacke, als ich zu allem Überfluss fest­stellen musste, dass der mit Moos bedeckten Leiter mehrere Sprossen fehlten. Hannes warf mir einen Blick zu, unter dem mir noch beträchtlich unbehaglicher wurde.
„Oh Klasse, ein Hochsitz! Wer kommt mit rauf?“, rief Kora begeistert und begann sofort, die Leiter zu erklimmen. –
„Neiiiiiiiiiiin – – –!“ – Noch bevor jemand etwas erwidern konnte, hörte ich diesen gräßlich schrillen, markerschütternden Schrei, der die lediglich von Vogelgezwitscher erfüllte Stille des Waldes zerriss und sich zu einer unerträglichen Höhe emporschwang. Er drang mir in sämtliche Poren, ließ mir das Blut in den Adern stocken und traf mich mitten ins Herz. Es hätte mich nicht überrascht, wäre „der Hexer“ aus dem Ur­walddickicht hinter den Tannen aufgetaucht, und meine grenzenlose Angst wurde nicht gerin­ger, als ich entsetzt feststellen musste, dass i c h es gewesen war, die diesen Wahnsinnsschrei ausgestoßen hatte. Ich ganz allein.
In der glutheißen Luft lag eine dramatische Spannung, eine nahezu lähmen­de Stille. Mein Schrei schien den ganzen Wald erschüttert zu haben; die Bäume wirkten wie abgestorben: stumm und ver­steinert, als hätten die Vöglein ihren Ge­sang eingestellt und kein einziges Insekt brummte mehr, als seien sämt­liche Käfer vor Schreck unter die Baumrinden gekrochen. Kurz und kanpp: Es herrschte eine Wahnsinnsruhe im Lachauer Forst.
Die Clique starrte mich entgeistert an. Konnys Mund stand sprerrangelweit offen. „Kora, komm sofort von dieser Leiter!“, fand Hannes als Erster seine Sprache wieder. Er ließ mich dabei nicht aus den Augen.
„Ich glaube, Katja hat schwache Nerven. Sie ist ja auch viel zu dünn. Vielleicht sollte sie mehr essen.“
Das war zu viel des Guten.
„Guckt euch doch nur mal die Leiter an, ihr Schwach­köpfe“, versuchte ich zu retten, was noch zu retten war.
„Ja seht ihr denn nicht, dass da oben jede zweite Sprosse fehlt und die anderen total brüchig sind?“
Konny klappte endlich seinen Mund wieder zu, machte sich an seiner Bade­tasche zu schaffen und förderte einen Apfel zutage.
„Katja hat Recht“, sagte Hannes. „Das ist gerade nochmal gutgegangen, Kora. Du hättest dir den Hals brechen können. Stell dir nur mal vor, eine Wildsau wäre angepest gekommen und hätte ihre Schwarte an der Leiter geschuppt, während du dort oben herumge­hockt hättest. Ich gehe jede Wette darauf ein, dass dieser marode Ansitz unter dir zusammen­gebrochen wäre.“
„Mach halblang,“, grinste Konny. „Die einzi­ge Wildsau, die hier frei herumläuft, bist du, Hannes, und dich halten wir schon in Schach, stimmt's, Mädels?“
Kora nickte heftig.
„Unser Konny, der Halbstar­ke“, griente Hannes und freute sich wie ein Schneekönig über Konnys Witz.
Vielleicht hab' ich ihr das Leben gerettet – falls es hier einen Irren gibt, der jeden umlegt, der auf diesen Hochsitz klettert, dachte ich und warf Hannes einen dankbaren Blick zu.

Ich brachte es immerhin fertig, alleine aufzustehn, obwohl meine Knie be­denklich zitterten. Als ich die schrottreife Kanzel zu umkreisen begann, stand ich immer noch unter Schock. Anfangs schlug ich einen weiten Bogen um das unheilvolle Wrack, dann ließ ich den Abstand mit jeder Runde geringer werden.
Hannes fragte scheinheilig: „Suchst du was Bestimmtes, liebe Katja?“
„Nur meine Haarspange“, log ich. „Sie muss mir aus der Hosentasche gefallen sein.“
„Bei diesem Schrei vor Schreck entflo­hen“, witzelte Konny.

Ich war bei einem Radius von knapp zwei Metern angelangt, als mein wach­samer Blick auf einen zerknitterten weißen Zettel fiel. Der helle Wahnsinn!

Das ominöse Fitzelchen lag wie eine freudige Botschaft zwischen den borstigen, kniehohen Gräsern. Ich näherte mich verstohlen dem corpus delicti, ging be­dächtig in die Hocke, und tat so, als wollte ich den Schnürsenkel meines rech­ten Turnschuhs fester binden. Hannes, der auf der Wolldecke seiner Tante hockte und angestrengt die Gegend beäugte, schaute misstrauisch zu mir herüber. In einem wie ich glaubte geeigneten Moment schnappte ich mir das rätselhafte Papier, spürte sekundenlang nichts weiter als den zerknitterten, sonnenwarmen Zettel in meiner geballten Faust und das wahnsinnige Häm­mern in meiner Brust, und befördete das vermeintliche Beweisstück, das bei kürzester, sekundenlanger Betrach­tung der Rechnung einer Gaststätte glich, unter die lockere Zunge meines rech­ten Turnschuhs. Mir war zumute, als hätte ich bei einer Tom­bola das Glückslos gezogen.

„Ich gebe es auf“, seufzte ich schließlich. „Hier findet man ja den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wann wollen wir eigentlich weiter? Ich dachte, ihr wolltet zum Baden?“
„Wieso ihr?, wunderte sich Konny. „Ich dachte, du wolltest auch mit?“
„Dann lasst uns jetzt weiterfah­ren, hier ist es mir eh unheimlich“, mischte sich Kora in unseren geistlosen Dialog und stieg auf ihr Fahrrad.
Während wir kräftig in die Pedale traten, um endlich an unser Ziel zu gelangen, dachte ich fort­während an die Quittung, die auf dem Spann meines Fußes ruhte. – Wem war sie am Hochsitz aus der Tasche gerutscht? Und vor allem: wann? Allzu lange konnte es nicht her sein; vor einigen Tagen soll es in Lachau und Umgebung stark geregnet haben. Leni hat mir gestern erzählt, sie sei mit Gertrud Pahlke, Opas Cousine, die im Nachbardorf wohnt, über die Dörfer spaziert. Auf dem Rückweg seien sie in ein Gewitter geraten und bis auf die Haut durchnässt worden. Die arme Gertrud habe am nächsten Tag hohes Fieber bekommen und eine Woche lang das Bett hüten müssen. Die Quittung machte jedoch keines­wegs den Eindruck, als habe sie einen derart starken Regenguss überstanden. Dass ein Kripomann, der die Ermittlungen wieder aufgenommen hat, sie dort verloren haben könn­te, halte ich für ausgeschlossen. So schusse­lig kann doch niemand dort sein ... Was meinst du, liebe Christine? Ich tippe auf den Mörder. Wahrscheinlich ist er, aus welchen Gründen auch immer, an den Tat­ort zurück­gekehrt. Eigentlich hätte ich ja der Polizei meinen Fund übergeben müssen; aber dann wäre unweigerlich ans Licht gekommen, dass ich mich mit dem Mord an Knut über das übliche Maß hinaus befasse.

Was blieb mir also ande­res übrig, als vorerst auf eigene Faust zu ermitteln. Ich konnte es kaum er­warten, den Schnipsel auf Herz und Nieren zu prüfen. Soweit ich bei meiner Blitzaktion erkennen konnte, stammte er aus einem Lübecker Gasthaus.

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