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und haben nicht einmal ein Grab hier unten zwischen unseren Lieben. Wir haben keine unsterbliche Seele, und wir erhalten auch nie wieder Leben.
Die Menschen dagegen haben eine Seele, die ewig lebt. Sie lebt, auch wenn der Körper zu Erde zerfallen ist. Sie steigt auf in der klaren Luft und zu all den schimmernden Sternen empor!"
"Warum bekamen wir keine unsterbliche Seele?", fragte die kleine Seejungfrau betrübt. "Ich würde alle meine hundert Jahre, die ich zu leben habe, dafür hingeben, einen Tag ein Mensch zu sein, um Teil zu haben an der himmlischen Welt! Kann ich denn gar nichts tun, um die unsterbliche Seele zu gewinnen?"
"Nein", sagte die Alte. "Nur wenn ein Mensch dich so lieb gewinnt, dass du für ihn mehr wirst, als Vater und Mutter, wenn er mit allen seinen Gedanken und seiner Liebe an dir hinge, und wenn er den Priester deine rechte Hand in seine legen ließe, dann würde seine Seele in deinen Körper überfließen, und du hättest Teil an dem Glücke der Menschen. Er gäbe dir eine Seele und behielte doch die eigene. Aber das kann niemals geschehen! Was hier im Meere gerade als schön gilt, nämlich dein Fischschwanz, das finden sie oben auf der Erde hässlich. Sie verstehen es eben nicht besser. Man muss dort zwei plumpe Säulen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!" Da seufzte die kleine Seejungfrau und sah betrübt auf ihren Fischschwanz.
Aber bald dachte sie doch wieder an die menschliche Welt. Sie konnte den schönen Prinzen einfach nicht vergessen, und auch nicht ihren Kummer darüber, dass ihr die unsterbliche Seele fehlte. Deshalb schlich sie sich aus dem Schloss ihres Vaters, und saß betrübt in ihrem kleinen Meeresgarten. "Alles will ich wagen", dachte sie, "um ihn und meine unsterbliche Seele zu erlangen! Ich will zur Meerhexe gehen, vor der ich mich immer so gefürchtet habe. Vielleicht kann sie mir Rat geben und helfen!"
Nun ging die kleine Seejungfer aus ihrem Garten hinaus zu dem brausenden Malstrom, hinter dem die Hexe wohnte. Diesen Weg war sie nie zuvor gegangen. Da wuchsen keine Blumen und kein Seegras. Nur der nackte graue Sandboden streckte sich gegen den Malstrom, der brausend alles in die Tiefe riss. Mitten durch die zermalmenden Wirbel musste sie gehen, um in das Reich der Meerhexe zu gelangen. Dann gab es eine ganze Strecke keinen anderen Weg, als über den heißsprudelnden Schlamm, den die Hexe ihr Torfmoor nannte. Und dahinter lag ihr Haus, mitten in einem seltsamen Walde. Die kleine Seejungfrau blieb mit klopfendem Herzen draußen stehen, fast wäre sie wieder gegangen. Aber sie dachte an den Prinzen und an die Menschenseele, und das machte ihr frischen Mut. Sie gelangte an einen großen Platz im Walde, der mit Schleim bedeckt war. Große, fette Wasserschlangen wälzten sich herum, die ihre hässlichen, weißgelben Bäuche zeigten. Mitten auf dem Platze war ein Haus aus den weißen Gebeinen der ertrunkenen Menschen errichtet. Da saß die Meerhexe und ließ eine Kröte von ihrem Munde essen, gerade so, wie Menschen einen kleinen Kanarienvogel Zucker picken lassen. Die hässlichen, fetten Wasserschlangen nannte sie ihre kleinen Küken und ließ an ihrer Wange schmusen.
"Ich weiß schon, was du willst!", sagte die Meerhexe, "das ist zwar dumm von dir, aber du sollst trotzdem deinen Willen haben, denn er wird dich ins Unglück stürzen, meine schöne Prinzessin. Du willst gerne deinen Fischschwanz los sein und dafür zwei Stümpfe wie die Menschen haben, damit der junge Prinz sich in dich verliebt und du eine unsterbliche Seele bekommen kannst!"
Die Hexe lachte so laut und scheußlich auf, dass die Kröte und die Schlangen zur Erde fielen und sich dort wälzten. "Du kommst gerade zur rechten Zeit", sprach die Hexe weiter. "Morgen, wenn die Sonne aufgeht, könnte ich dir nicht mehr helfen, bevor wieder ein Jahr um wäre. Ich will dir einen Trunk bereiten. Mit dem sollst du, bevor die Sonne aufgeht, ans Land schwimmen, dich ans Ufer setzen und ihn trinken. Dann verschwindet dein Schwanz und schrumpft zusammen zu dem, was die Menschen hübsche Beine nennen. Aber es tut weh, es wird sein als ob ein scharfes Schwert durch dich hindurch ginge. Alle werden dich für das liebreizendste Menschenkind halten, das sie je gesehen haben! Du behältst auch deinen schwebenden Gang und keine Tänzerin wird so schweben können, wie du! Aber jeder Schritt wird sein, als ob du auf ein scharfes Messer treten müsstest. Willst du dies alles erleiden, so werde ich dir helfen!"
"Ja!", sagte die kleine Seejungfer mit bebender Stimme und dachte an den Prinzen und die unsterbliche Seele. "Bedenke aber", sagte die Hexe, "hast du erst die menschliche Gestalt bekommen, so kannst du nie wieder eine Seejungfrau werden! Niemals wieder kannst du durch das Wasser zu deinen Schwestern niedersteigen und zum Schloss deines Vaters. Und wenn du die Liebe des Prinzen nicht erringst, sodass er Vater und Mutter vergisst und mit all seinen Gedanken nur an dir hängt, und wenn der Priester eure Hände nicht ineinander legt, so bekommst du keine unsterbliche Seele! Wenn der Prinz sich mit einer anderen vermählt, muss dein Herz am folgenden Morgen brechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser.""
"Ich will es!", sagte die kleine Seejungfrau und war bleich wie der Tod.
"Aber du musst mich auch bezahlen!", sagte die Hexe. "Es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die herrlichste Stimme von allen, hier unten auf dem Meeresgrunde. Damit wirst du den Prinzen bezaubern, hast du dir wohl gedacht, aber die Stimme musst du mir geben. Das Beste, was du hast, will ich für meinen kostbaren Trank! Ich muss ja mein eigenes Blut für dich geben, damit der Trank scharf wird, wie ein zweischneidiges Schwert!"
"Aber wenn du mir meine Stimme nimmst," fragte die kleine Seejungfrau, "was behalte ich dann übrig?" "Deine schöne Gestalt", sagte die Hexe, "deinen schwebenden Gang und deine sprechenden Augen. Damit kannst du schon ein Menschenherz betören! Na, hast du den Mut schon verloren? Streck deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie ab. Das ist die Bezahlung, und du bekommst den kräftigen Trank dafür!"
"Es geschehe!", sagte die kleine Seejungfrau, und die Hexe setzte
Die kleine Meerjungfrau (dänisch Den lille Havfrue) ist ein Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen von 1837. Es basiert auf der Sage der Undine.