Ein Traum von Paris - Page 3

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die von Clara ausging.
Wenn der Engel etwas erzählte, wurde andächtig gelauscht, so wie Kleinkinder am Lagerfeuer Großvaters Erzählungen zuhören. Niemand fiel ihr ins Wort, und wenn sie lachte, lachten alle mit. Selbst wenn Clara in der Rolle der Zuhörerin war, überstrahlte sie alle. Es mochte Zufall sein, doch Valentin bemerkte mehrfach, dass die anderen nur scheinbar in die Runde sprachen und tatsächlich der Großteil des Gesagten an Claras Adresse ging.
Valentin nahm einen tiefen Schluck von seiner Saftschorle. Meistens hasste er es, hier zu sein. Nicht speziell in diesem Café, denn das gefiel ihm im Grunde ausgesprochen gut. Er hasste es, den Beobachter spielen und sich vor Claras Blicken verstecken zu müssen. Sie durfte natürlich nicht merken, wie er, ausgerechnet er, sie observierte und mit den Augen sprichwörtlich auszog. Sie würde es nicht verstehen. Heute war Valentins Stimmungslage aber, was in letzter Zeit häufiger vorkam, zusätzlich noch von Selbstmitleid geprägt. Wegen der Aussichtslosigkeit seiner Liebe. Wegen der Lächerlichkeit der gesamten Situation.

Er hatte sich ein Buch mit ins Café genommen, um sich selbst gegenüber eine Rechtfertigung zu haben für das stundenlange Sitzen am Tisch in der Ecke. Doch er hatte noch keine einzige Seite darin gelesen. Er hatte es auch nicht vor, denn er war natürlich nicht zum Lesen hier. Clara hatte beim Hereinkommen einen neuen Mantel getragen, in hellbeigem Farbton, der sie noch süßer aussehen ließ, als sie es ohnehin schon war. Auch die Kette um ihren Hals schien neu zu sein, zumindest hatte er sie noch nie zuvor an ihr gesehen. Dieses neue Detail würde es sicherlich auch wieder in seine Aufzeichnungen schaffen, und wohl auch in seinen Schlaf. Denn in letzter Zeit waren auch Valentins Träume wieder hauptsächlich von ihr erfüllt. Es war zum Heulen. Clara füllte die ganze Breite seines Horizontes aus, sie bestimmte seinen Tagesablauf und im Grunde sein ganzes Leben. Ein Leben, das er niemals mit ihr würde teilen können.

Den schönsten Traum von ihr hatte Valentin wenige Wochen zuvor gehabt. Sie beide waren darin nach Paris gereist, natürlich im TGV. Clara hatte ihm oft schon von ihrem Wunsch erzählt, einmal mit dem Schnellzug nach Paris zu reisen, die Stadt, die so sehr liebte und in der sie irgendwann leben wollte. Modedesign studieren, Kleider entwerfen und die Tage in den Straßencafés und Brasserien verbringen, so stellte sie sich das Leben in Paris vor. Also war es nur logisch, dass Valentin sie im Traum nach Paris entführte.
Zusammen bummelten sie am Seine-Ufer entlang, bestaunten die goldene Kuppel des Invalidendoms, die monumentale Größe des Eiffelturms und die starre, symmetrische Schönheit der Place des Vosges. Im Traum war es ganz einfach, mit Clara an ihre Pariser Lieblingsorte zu gelangen. Man musste dafür weder die Métro benutzen noch den Bus, man landete einfach dort. Und Valentin konnte Clara zu allen Sehenswürdigkeiten etwas erzählen, er brachte sie mit lustigen Anekdoten zum Lachen, konnte ihr geheime Ecken zeigen, und natürlich wusste er immer, wohin man zum Kaffeetrinken gehen konnte. Kurzum: Er brachte ihr Paris, ihre Lieblingsstadt, nahe, und sie liebte ihn dafür. Flüsterte ihm dann ins Ohr, wie sehr sie alles bewunderte, was er für sie tat. Und sie küsste ihn. Abends führte Valentin sie zum Essen aus, in ein schickes, kleines Lokal im Marais. Sie tranken Wein und gaben sich langen und innigen Küssen hin. Mit geschlossenen Augen. Es war ein intensiver Traum gewesen, und als Valentin aufgewacht war, hatte er einige Minuten gebraucht, um alles einzuordnen und zu begreifen.

Valentin lenkte seine Gedanken wieder in die Gegenwart. Das ganze verfluchte Selbstmitleid nahm ihn schon wieder ziemlich mit. Er brauchte eine kurze Auszeit. Leise und unauffällig, damit Clara ihn nicht bemerkte, verließ er das Café. Draußen stellte er sich so hin, dass er sie durch die Scheibe weiter beobachten konnte. Er zündete sich eine Zigarette an. Während er den Tabak in seine Lungen ließ, wurde das Gespräch an Claras Tisch lebhafter. Sie saß mit auf die Handflächen gestützten Kopf da, hörte den Ausführungen des dunkelhaarigen Mannes zu ihrer Rechten zu. Dann plötzlich lachte sie ihr wunderschönes, glockenhelles Lachen. Valentin konnte es durch die Scheibe nicht hören, doch er hatte den Klang im Ohr, und natürlich liebte er auch dieses Geräusch so, wie er alles an ihr liebte. Er behielt die Szene im Auge, denn er spürte, dass dort drinnen gleich etwas geschehen würde, das ihm nicht gefiel.

Clara hörte dem Mann mit den dunklen Haaren weiter zu. Dann trank sie von ihrem Cappuccino, führte dabei die Tasse wieder mit dieser unnachahmlich sanften Bewegung zum Mund. Und dann, das Gespräch verlagerte sich gerade an das andere Ende des großen Tisches, gab sie dem Mann einen Kuss. Es war kein romantischer, zärtlicher Hollywood-Kuss, mehr eine flüchtige Berührung der Lippen, und doch strahlte die Geste eine Vertrautheit aus, die Valentin geradezu schockierte.

Warum wusste er davon nichts? Er starrte die beiden minutenlang durch die Fensterscheibe hindurch an, während die kaum angerauchte Zigarette in seiner Hand erlosch. Alles, was Clara jetzt tat, jede Gesichtsregung, jede noch so kleine Bewegung, wurde von ihm genau registriert und von unsichtbarer Hand in die Klageschrift geschrieben. Sie hat einen Neuen, dachte er. Dieses Luder.
Als stünde er auf einem Schiff auf offener See, fühlte sich der Boden unter seinen Füßen plötzlich wackelig an. Etwas schien ihn nach unten zu ziehen, doch Valentin gab dem Verlangen nicht nach, die Augen von den Geschehnissen hinter der Scheibe abzuwenden. Clara und der Dunkelhaarige tauschten stumme Blicke aus. Verdammt noch einmal, sie schmachteten sich an, und in Valentin formulierte sich eine Erkenntnis von vernichtender Bedeutung: Ein anderer hatte die Stelle in ihrem Herzen besetzt, auf die nur er ein Anrecht hatte. Wut und Hass stiegen in ihm auf, auch ein wenig Ekel sich selbst gegenüber. Dieses verfluchte Leben hatte einen neuen Tiefschlag für ihn vorbereitet. Einen Schwinger mitten in die Magengrube, der ihm kurz die Luft zum Atmen genommen hatte, den er nun aber kontern musste, um nicht im nächsten Moment vollends ausgeknockt zu werden. Er war nun voll und ganz auf den Neuen fokussiert. Auf seinen neuen Feind. Den letzten Nebenbuhler hatte er vor einem Jahr aus Claras Leben geekelt, nun begann das Spiel erneut.

Valentin warf die erloschene Zigarette fort und betrat das Café. Vorsichtig schlich er zurück zu seinem Tisch. Jetzt galt es, die Situation genau zu beobachten, Schlüsse zu ziehen und einen Plan zu fassen. Er durfte nicht zulassen, dass sich etwas zwischen ihn und Clara schob. Sie gehörte ihm, sie durfte zu niemand anderem gehören.
Erst, als er sich wieder gesetzt und die Jacke über seinen Stuhl gehängt hatte, merkte er, dass Clara ihn anstarrte. Sie hatte ihn entdeckt, musste ihn beim Hereinkommen gesehen haben. Ungläubiges Staunen lag in ihrem Blick, dann huschte ein spöttisches Lächeln über ihr Gesicht. Plötzlich stand sie auf und kam zu ihm herüber. Die Blicke ihrer Freunde folgten ihr. Auch der Neue, der Dunkelhaarige, sah überrascht und fragend zu Valentin herüber. Clara war bereits an seinem Tisch angelangt und setzte sich ungefragt auf den freien Stuhl.

(ENDE DER LESEPROBE)

"Ein Traum von Paris" entstand im Jahr 2014 und wurde sowohl einzeln als eBook (0,99€) veröffentlicht als auch im Sammelband "Zufällige Bekanntschaften", zusammen mit sechs weiteren Geschichten. Siehe Links unter dem Text.

Veröffentlicht / Quelle: 
Veröffentlicht im Sammelband "Zufällige Bekanntschaften" des Autors (Taschenbuch / eBook)

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