Ein Traum von Paris - Page 2

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in einer anderen Welt. Unerreichbar. Manchmal fühlte er sich wie ein Fremder, dabei kannten er und Clara sich doch so lange.

Früher, dachte Valentin, war alles so einfach. Wie vertraut sie sich damals waren! Sie hatten zusammen Spaß gehabt, jede Menge Unfug angestellt, viel gelacht. Es war eine unbeschwerte Zeit gewesen, ein herrlicher Rausch, an den er sich gerne zurückerinnerte. Sie hatten miteinander geredet wie zwei normale Menschen, und nicht selten hatte Clara ihm sogar intime Gefühle und Sehnsüchte offenbart. Das war alles völlig unproblematisch für ihn gewesen, bis zu jenem Abend vor vier Jahren, auf der WG-Party eines gemeinsamen Freundes.

Clara hatte viel getrunken. Es war die Zeit der Selbsterfahrung, der bewussten Überschreitung von Grenzen. Sie hatte damals gerade mit dem Studium begonnen und kostete alles aus, was das Leben ihr anzubieten hatte. Völlig losgelöst von aller Last tanzte sie stundenlang im Wohnzimmer, und als Valentin ihren sinnlichen Bewegungen zusah, spürte er, wie sein Herz immer schneller zu klopfen begann. Nie zuvor hatte er Clara mit den Augen eines jungen Mannes angesehen, so wie an jenem Abend. Nun spürte er erstmals das Begehren in sich aufkeimen und konnte seinen Blick kaum mehr von ihr abwenden. Spät nachts, Clara war mittlerweile schon in einem Zustand entrückter Seligkeit, schlang sie ihre Arme um ihn und zog ihn mit auf die Tanzfläche. Sie lachte ihn an, sah ihm pausenlos in die Augen und schien ihn verführen zu wollen.
Er hatte versucht, etwas zu sagen. Seine Kehle war trocken. Clara hatte gelacht und ihm mit dem Finger bedeutet zu schweigen. Sie hatte sich eng an ihn geschmiegt, ihren Kopf auf seiner Brust.
Am Ende hatte sie ihren Zeigefinger auf seine Lippen gepresst, noch einmal gelacht und war zum nächsten Tanzpartner weitergegangen, einfach so.
Zurück blieb Valentin in höchster Verwirrung und einem Leben, in dem auf einmal nichts mehr so war wie zuvor.

Seit dem Tag, an dem Valentin klar wurde, dass er Clara liebte, nein, dass er sie begehrte, konnte er mit ihr nicht mehr sprechen. Sicher, es kamen immer noch Worte aus seinem Mund, wenn er ihr gegenübersaß. Doch oft wusste er nicht, was er da eigentlich sagte, immer wieder passierte es ihm, dem im Freundeskreis für seine Eloquenz gerühmten Spaßmacher, dass sein Redefluss stockte, dass ihm platte Sprüche entfuhren, dass er sich in hohles Lachen retten musste, um peinliche Aussagen zu überspielen. Auch Clara direkt in die Augen zu sehen, war ihm nicht mehr möglich seit jener Nacht. Wenn er darüber nachdachte, begriff er, wie lächerlich es war. Doch er konnte nichts daran ändern, er befand sich in einem Zustand, der rationales Denken und abgeklärtes Handeln nur mehr am Rande zuließ.

Clara schien die Veränderung in seinem Wesen ohnehin nicht bemerkt zu haben. Oder wollte sie sie nicht bemerken? Bei ihren Begegnungen, die nun immer seltener wurden, weil beide an verschiedenen Unis studierten und weil Valentin es kaum noch ertrug, mit ihr alleine zu sein, war Clara dieselbe Person wie zuvor. Strahlend schön schwebte sie über den Dingen, betrachtete das Leben als notwendiges Übel, dem man keinen übertriebenen Ernst beimessen sollte, neckte ihn auf liebevolle und niemals ernste Weise.
Selbst wenn Valentin sich in ihrer Gegenwart benahm wie ein kompletter Idiot, ging sie nachsichtig mit ihm um. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich über ihn lustig zu machen. Ganz im Gegenteil lachte sie sogar über seine Sprüche und schien selbst die langatmigen Ausführungen, in denen er sich ihr gegenüber verstieg, interessant zu finden. Das Ausmaß, in dem er sich quälte, um ihr zu gefallen, bemerkte sie offenbar nicht. Clara betrachtete Valentin immer noch mit denselben Augen wie früher, so als hätte es den eng umschlungenen Tanz und die zärtlichen Gesten nicht gegeben.
Dabei fand Valentin, dass er sich auf geradezu auffällige Weise verstellte, wenn Clara im selben Raum war. Sie kannte ihn schon so lange, es war im Grunde ausgeschlossen, dass sie das nicht bemerkte. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er sich so gezwungen verhielt, doch noch viel weniger ertrug er Claras fast schon gleichgültige Art ihm gegenüber. Als wollte sie ihn für das bestrafen, was sie auf der Party mit ihm gemacht hatte.

Mehrfach schon hatte Valentin daran gedacht, dieses entwürdigende Schauspiel zu beenden. Einmal hätte er ihr sogar fast die ganze Wahrheit erzählt. Sie waren zu zweit im Wohnzimmer ihrer WG gesessen, nur einen Meter voneinander entfernt am selben Tisch. Clara las ein Buch von Murakami, den sie sehr verehrte, es war "Naokos Lächeln". Und Valentin saß daneben, nervös seine Hände knetend, er schwitzte und rang minutenlang mit sich selbst.
In dieser Situation wäre es so einfach gewesen, "Hör mal, Clara", zu sagen, und: "Es ist so: Ich liebe dich." Er hätte hinzufügen können "Ich weiß, was Du jetzt sagen willst, doch lass uns zumindest drüber sprechen."

Doch er hatte es nicht getan. Hatte sich auf die Zunge gebissen, und dies nicht nur einmal. Er wusste: Die Wahrheit würde alles zerstören und sie ihm endgültig und für alle Zeiten rauben. Nein, es ging nicht, es war unmöglich. Es gab für Valentin keine Möglichkeit, mit der Frau, die er liebte, glücklich zu sein. Es blieb ihm nur, sie aus der Entfernung zu beobachten und sich vorstellen, wie es sein musste, neben ihr aufzuwachen oder sie ganz einfach nur im Arm zu halten.

Valentins Blick wanderte über die Tische des Cafés hinweg auf die Gruppe am anderen Ende des Raumes. Natürlich war Clara der Mittelpunkt ihrer Clique. Sie war es immer, es war ihre natürliche Wirkung auf andere Menschen. Egal, mit wem sie unterwegs war, stets schien es keine Diskussion darüber zu geben, dass Clara die Hauptrolle spielte. Nicht, dass sie es darauf angelegt hätte. Valentin wusste nur zu gut, dass Clara selbst kaum etwas lieber tat, als anderen zuzuhören und Ratschläge zu erteilen. Doch ihre Ausstrahlung war so stark, ihre Schönheit so betörend, dass offenbar selbst ihre Freunde aus dem Studium, egal ob Mann oder Frau, ihr gefallen wollten. Valentin nahm das ohne Häme zur Kenntnis, auch ohne Eifersucht, er wusste ja nur zu gut um die verführerische Kraft,

"Ein Traum von Paris" entstand im Jahr 2014 und wurde sowohl einzeln als eBook (0,99€) veröffentlicht als auch im Sammelband "Zufällige Bekanntschaften", zusammen mit sechs weiteren Geschichten. Siehe Links unter dem Text.

Veröffentlicht / Quelle: 
Veröffentlicht im Sammelband "Zufällige Bekanntschaften" des Autors (Taschenbuch / eBook)

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