Der Goldene Käfig- Neufassung

Bild von Cleo
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Der goldene Käfig

Eigentlich hätte er zufrieden sein können mit seinem Leben...
Wenn er Rückschau hielt, spielte ein zufriedenes Lächeln um seinen Mund, denn er hatte viel erreicht. Er hatte sich hochgearbeitet aus ärmlichen Verhältnissen – zäh und verbissen und immer angetrieben von dem Wunsch, dem beengenden Milieu seiner Kindheit zu entkommen: Abtur auf dem Zweiten Bildungsweg, Studium der Betriebswirtschaft und dann stetig und beharrlich auf der Karriereleiter aufwärts. Er war ein Kind der Kriegsgeneration – und in den 50er jahren brauchte man Menschen wie ihn. Am Ende seines Arbeitslebens war er leitender Angestellter in einem mittelständischen Betrieb.
. Ein Mann, der etwas zu sagen hatte und auf den man hörte.
Auch im Privatleben lief alles gut. Seine Frau und er hatten sich kennengelernt, als sie beide noch sehr jung waren, er hatte genau so beharrlich um sie geworben, wie er seine Karriere betreib und sie war für ihn die Liebe seines Lebens : eine zierliche blonde Kindfrau, schön wie ein Bild, die ihm als tüchtige Hausfrau den Rücken stärkte und in dem schönen und repräsentativen Haus, das er für sie und die gemeinsamen Kinder gebaut hatte, für Ordnung sorgte. Sie unterstützte ihn auch nach Kräften dabei, als er sich einen Platz in der Kaste der Besitzbürger seines Heimatortes erkämpfte, war die schöne und stilsicher auftretende Frau an seiner Seite und die beiden galten allgemein als DAS Traumpaar schlechthin.
Er änderte einiges an seinem Habitus – achtete mehr als früher auf seine Figur und seine
Kleidung, wechselte von Fußball zu Tennis und betrieb diesen Sport mit einer an Fanatismus grenzenden Leidenschaft. Er wurde Mannschaftskapitän, führte seinen Verein von Sieg zu Sieg und untermauerte so seinen gesellschaftlichen Status.
Sie hatten ihre Kinder sehr schnell hintereinander bekommen. Nach dem vierten Kind fand seine Frau, dass sie ihren ehelichen Pflichten hinlänglich nachgekommen war und er respektierte ihre Zurückhaltung – das er hin und wieder unruhig wurde weil für ihn Sexualität mehr war als etwas das man nur zum Zeugen von Nachwuchs betreibt, verschwieg er seiner Frau. Sie war streng katholisch erzogen und lehnte jede Form von Empfängnisverhütung die nicht von der katholischen Kirche gutgeheißen wurde, kathegorisch ab...
Er kompensierte , indem er sich noch energischer als bisher mit Sport beschäftigte: er wanderte, unternahm lange Radtouren und engagierte sich noch stärker als bisher in seinem Tennisverein.
Seine Söhne wurden flügge und gründeten ihre eigenen Familien. Er achtete peinlich darauf, dass die Frauen, die sie sich aussuchten, aus intakten Verhältnissen kamen, duldete keine Verbindung mit Scheidungskindern oder solchen, die aus Patchworkfamilien stammten. Das hintertrieb er – eine Verlobung ging in die Brüche, weil die Braut kurz vor der Hochzeit einen Rückzieher gemacht hatte.
Also alles in allem eine gut bürgerliche und wohlsituierte Famile wie viele – nicht ohne Konflikte, aber doch wohlgeordnet in dieser saturierten und in sich geschlossenen Welt in der sie lebten – in dieser schönen und erzkatholischen Mittelstandt im Herzen von Westfalen.
Bis seine heile und wohlgeordnete Welt ins Wanken kam . Bis er erkannte, dass das familiäre Idyll mit der liebenden Gattin und den wohlgeratenen Söhnen, das er genau so zäh und ausdauernd erkämpft hatte wie seinen gesellschaftlichen Ausstieg, anfing zu bröckeln.
Es begann mit dem Tod seiner Mutter. Er hatte sie genau so geliebt wie sie ihn, hatte ihren körperlichen Verfall erlebt, hatte sie gepflegt so weit es seine Zeit erlaubte – er wollte das seiner Frau nicht zumuten – und es war qualvoll für ihn, das Versinken dieser kraftvollen und energischen Frau in der Demenz und ihren langsamen und qualvollen Krebstod zu erleben. Dieser langsame Tod hielt ihm den Spiegel vor. „Und ich? Was bleibt von mir, wenn ich tot bin? Was passiert, wenn ich irgendwann anfange, dement zu werden, so wie sie?“ Die Gedanken an Sterben und Tod nisteten sich hartnäckig in ihm ein,
wurden immer quälender und beklemmender:“Was bleibt von mir, wenn ich gestorben bin? War mein Leben wirklich so erfüllt, wie ich mir immer eingebildet habe? Und ist es wirklich ein Lebensziel, in der sozialen Stufenleiter nach oben zu klettern?“
Er versuchte, das Problem in den Griff zu bekommen – genau so systematisch, wie er alles andere in seinem Leben betrieben hatte. Er besuchte Meditationsseminare, beschäftigte sich mit Rückführungstheorien und anderen Themen, die er vor wenigen Jahren noch achselzuckend als „esoterischen Unfug“ abgetan hatte und entdeckte nach und nach seine spirituelle Ader. Es war für ihn eine Offenbarung – aber in seiner Familie stieß er auf Unverständnis.
Er wollte seine Frau, die doch über Jahrzehnte fest und zuverlässig an seiner Seite gestanden hatte, teilhaben lassen an seinen neuen Erkenntnissen – aber sie blockte ab.
Es war nicht nur ihre streng katholische Erziehung, die ihr im Wege stand – auch ihr Statusdenken . Sie hatte über Jahre ihrem Mann den Rücken frei gehalten, hatte ihn unterstützt, ihm ein schönes und repräsentatives Zuhause geschaffen – und jetzt geriet das solide Fundament auf das sie gebaut und dem sie vertraut hatte, ins Wanken.
Dieser nüchterne und zuverlässige Mann, der ihr und ihren Kindern jahrelang mit harter Arbeit ein komfortabeles und sorgenfreies Leben ermöglicht hatte, verlor sich in merkwürdigen Spekulationen. Sie beide waren jahrzehntelang ein Dreamteam gewesen – aber HIER konnte und wollte sie ihm nicht folgen.
Wenn er alles das, was sie bisher gemeinsam erreicht hatten, infrage stellte, dann gefährdete er ihre Welt. Zuerst versuchte sie noch , den unsichtbaren Panzer der ihn umgab aufzubrechen, ihn zurückholen auf den gemeinsamen Weg. Aber sie fand keinen Zugang mehr zu ihm - und so sah sie für sich keinen anderen Ausweg, als ihn zu bekämpfen. Und das tat sie . Sie suchte nach seiner schwachen Stelle – und fand sie in seiner Sexualität. An diesem wunden Punkt setzte sie an . Er hatte immer verbissen gegen das Altern gekämpft, war stolz auf sein jugendliches Aussehen, auf seinen straffen, durchtrainierten Körper und auf seine Männlichkeit. Seine Sexualität war Teil seiner Selbstbestätigung gewesen und es erfüllte ihn mit Stolz, dass er vier wohlgeratene Söhne hatte. Aber mit den Selbstzweifeln geriet auch dieser Stolz ins Wanken und er zweifelte an seiner männlichen Attraktivität, suchte Bestätigung. Und hier griff sie an - und sie kannte keine Gnade.
Sie war keine leidenschaftliche Frau. Sexualität war für sie, die streng katholisch erzogen worden war, immer nur Pflichtprogramm gewesen. Jetzt begann sie ,Sex als Kampfmittel einzusetzen, um ihren Ehemann mit Zuckerbrot und Peitsche „auf den Boden der Tatsachen“ zurück zu zwingen.
Sie begann, ihn herauszufordern, zu provozieren. Verlangte von ihm IHRE sexuelle Befriedigung und stieß ihn zurück , wenn er ihren Anforderungen nicht gerecht wurde, demütigte ihn, stichelte, igelte sich ein, sprach tagelang nicht mit ihm und begegnete ihm mit Verachtung, wo er Wärme und Halt suchte oder versuchte, mit ihr über die Fragen zu reden, die ihn umtrieben und ihm keine Ruhe ließen.
Nach außen blieb alles unverändert. Sie spielten weiterhin das ideale Paar und turtelten demonstrativ in der Öffentlichkeit, wenn sie gemeinsam Feste oder Familienfeiern besuchten, oder sich auf Reisen vor den anderen Mitreisenden in Szene setzten.
Aber sobald sich nach einer solchen Inszenierung die Haustür wieder hinter ihnen schloss, fielen Wärme und freundliche Zugewandtheit von ihr ab wie ein Mantel , der ihr lästig geworden war, und sie strahlte eine Eiseskälte aus, die ihn abstieß und doch wieder faszinierte, und die er immer wieder vergeblich versuchte, zu durchbrechen.
Er fröstelte. Das schöne Zuhause, für das er so hart gearbeitet hatte, brach vor seinen Augen auseinander wie die morschen Kulissen eines in Konkurs gegangenen Schmierentheaters.
Dieses Haus mit seinem liebevoll gestalteten Garten, den schönen und repräsentativen Möbeln, den teuren Teppichen und dem kostbaren Porzellan – es war IHR Werk. SIE hatte es so haben wollen. Und dieses große Familienbild in der Diele, das SIE sich gewünscht hatte und das jetzt jedem, der das Haus betrat triumphierend zu rufen schien: “Schaut her! Das sind WIR! Die perfekte Famillie!“ .er war jahrelang stolz gewesen auf dieses Bild... . Wenn er es jetzt anschaute , schüttelte er innerlich den Kopf. Es kam ihm vor wie ein billiges Versatzstück.
Er sah seine Frau an, wie sie auf diesem Bild am Tisch saß in ihrem hübschen Kleid im Landhaus-Stil, puppenhaft schön... „Wie eine Barbiepuppe“ dachte er...
Und seine Söhne – schablonenhafte Gliederpuppen auch sie - jeder in seiner eigenen Welt gefangen, ohne Blick für seine Geschwister. Und er selbst : ein Herr im Anzug mit maskenhaft starrem Gesicht, die Augen verborgen hinter einer Brille, deren Gläser so sehr spielgelten, dass man nur zwei weiß schimmernde Scheiben sah. Blicklos, steif und ungelenk „wie ein Buchhalter“ dachte er. - Nein – wie ein Bediensteter. Ein Domestik, der untertänig auf die Anweisungen seiner Herrin wartet.
Er lächelte bitter. Wann war seine Ehe zu dem geworden, was sie heute war?
Seine Söhne... SIE hatte sie erzogen und geformt – und er meinte unterschwellig leisen Spott in ihren Augen zu lesen, wenn er versuchte, sich ihnen mitzuteilen, die Dinge anzusprechen, die ihn umtrieben.Sie waren auf der Seite seiner Frau, genau wie die Frauen, die sie sich ausgesucht hatten .Und wenn sie an den Wochenenden in ihr ehemaliges Elternhaus zu Besuch kamen, dann kamen sie zu IHR und nicht zu IHM.
Er versuchte, seinem Ältesten näher zu kommen auf langen Wanderungen. Erzählte ihm von seinen Gedanken, die sich um die Frage des Weiterlebens nach dem Tode drehten.Aber sein Sohn bat ihn irgendwann, dieses Thema nicht mehr zu berühren. Es sei ihm zu anstrengend., er könne ihm nicht folgen.Von da an wanderten sie schweigend . Er genoss trotzdem das Zusammensein mit seinem Sohn, hoffte, doch noch eine Ebene zu finden, auf der sie zueinander kommen und sich verständigen konnten - und sei es bei dem Weg, den sie gemeinsam bewältigten.
Aber SIE schien zu spüren, dass ihr Ältester ihrem Einfluss entglitt, und sie sabotierte die Bemühungen ihres Ehemannes, wann immer es möglich war .Wenn er eine gemeinsame Wandertour mit seinem Sohn plante, versuchte sie, wenn schon nicht das Vorhaben als solches, so doch zumindest die Zeit, die die beiden miteinander verbrachten, zu begrenzen. So auch in den letzten Wochen vor seinem Tod. Er und sein Sohn wollten ursprünglich zwei Wochen in Südspanien gemeinsam wandern. Aber sie und ihre Schwiegertochter interveniertern so heftig gegen diesen Plan, dass er sich schließlich auf einen Kompromiss einliess: die Hälfte der Strecke allein zu wandern und sich erst dann mit seinem Sohn zu treffen. Ihre Schwiegertochter war zu ihrer Verbündeten geworden– denn sie sah ebenfalls mit Unbehagen, dass ihr Mann sich stärker seinem Vater zuwandte, einem Mann, der in seinem eigenen Hause nichts galt.
ER war allein – mitten unter den Menschen, von denen er geglaubt hatte, dass sie ihm am nächsten stehen .
Aber was sollte er tun? Fortgehen? Ausbrechen und all das hinter sich lassen, was er sich in jahrzehntelanger mühevoller Arbeit erkämpft hatte? Er wagte es nicht, spielte weiterhin nach außen den glücklichen, erfolgreichen Mann, in dessen Leben alles stimmte. Er saß fest in dem Goldenen Käfig, den er sich selbst gebaut hatte – seine schöne Frau war seine Kerkermeisterin geworden -und sie hatte die gemeinsamen Kinder als Geiseln genommen.
War es DIESE Erkenntnis, die ihn eines Tages dazu trieb, im falschen Augenblick aufs Gaspedal zu treten? Er und seine Frau waren gemeinsam unterwegs - in dem Kleinwagen, den er ihr geschenkt hatte - und er war, wie so oft, ein wenig zu schnell gefahren. Auf einer Kreuzung die nicht weit von seinem Haus lag, fuhr der kleine rote Citroen ungebremst mitten in den Querverkehr und wurde dort von zwei anderen Autos gerammt, die fast gleichzeitig seinen Weg kreuzten. Er und seine Frau starben noch am Unfallort.
Zurück bleiben vier erwachsene Söhne, die ihren Vater verantwortlich machen für den Tod der von ihnen so sehr verehrten Mutter – und in einer anderen Stadt eine heimliche Geliebte, die ihn vergötterte, die aber nichts von seinem Kummer wusste – denn er hatte seine Schwäche, seinen Schmerz und seine innere Einsamkeit bis zuletzt vor ihr verheimlicht . Darum hatte sie ihm auch nicht helfen können, als das Gebäude seines Lebens auseinanderbrach.