Fortsetzung v. 21. Dez. 2017; Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes 1. Fall, ein Krimi

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Marc und Knut hatten nicht lange graben müssen: Bereits nach wenigen Spatenstichen waren sie auf Knochenteile gestoßen, die unleugbar zu einem Säuglingsskelett gehörten.
Ich verabschiedete mich hastig von Stefan und begab mich auf dem schnellsten Weg zurück nach Weidenbach.
An der Bordsteinkante neben dem Apfelgarten gähnte noch eine kleine Lücke, und ich manövrierte meinen Wagen dort hinein und stieg aus. Herr Kollberg trabte mir entgegen. Er führte Santo an der Leine, dessen Begrüßung weniger stürmisch ausfiel als bei anderen Gelegenheiten, weil er sich ganz offensichtlich von seinem Herrchen gegängelt fühlte. Ich strich meinem Lebensretter kurz übers glänzende dunkle Fell und lief in den Finstergang. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits aufgenommen; es wimmelte nur so von Kriminaltechnikern, die jeden Millimeter des verwilderten Gartens filzten.

„Es war ein kleines Mädchen, Nora“, sagte Marc. „Peer, wann spätestens könnt ihr uns sagen, ob es sich bei dem Leichnam um Brenda Bohlaus Kind gehandelt hat?“

„Wir bringen die sterblichen Überreste des Kindes noch heute ins Gerichtsmedizinische Institut nach Grenzheim, Abteilung forensische Genetik. Ruf mich doch in vier, fünf Tagen an, dann kann ich dir mehr sagen. Wir werden einen Mutterschaftstest vornehmen. Dazu müssen wir ein Stück aus einem Knochen heraussägen, um die mitochondriale DNA isolieren zu können und Analysen durchzuführen. Die sogenannte 'mt-DNA' wird nämlich im Unterschied zu der DNA des Zellkerns ausschließlich über die Mutter an die Nachkommen weitergegeben. Möglicherweise finden wir an den Knochen noch weitere Spuren, aus denen wir Rückschlüsse auf einen möglichen Täter schließen können. Eines vorweg: Der Säugling ist keine drei Tage alt geworden.“

„Weshalb hat e r die Überreste des Kindes nicht gefunden? Der Leichnam lag doch nur weniger als einen halben Meter unter der Erde?“, fragte ich Marc, als wir auf der Wache in Weidenbach angekommen waren. Knut Hansen hatte dienstfrei genommen und war nach Hause gefahren. Er schien dermaßen entsetzt über den grausamen Fund, dass er kaum noch klar denken konnte.
„Leander Koska? - Ich weiß es nicht, Nora. Möglicherweise wollte er uns nur darauf aufmerksam machen, dass dort jemand begraben liegt, vermutlich um unser Augenmerk auf Johann Falkner zu lenken, der ja nun zwischenzeitlich verstorben ist.“ -
„Worüber Leander informiert ist?“
„Gut möglich“, sagte Mark. „Ich bin über eventuelle Kontakte, die dieser Kerl noch zu Bewohnern des Hauses in der Querstraße unterhält, leider nicht unterrichtet. Möglicherweise hat uns sogar dieses biedere Ehepaar Hogemann angelogen.“
„Wohl kaum“, sagte ich. „Weshalb sollten sie?“
„Diese Leute kamen mir fast schon zu bieder vor; und wie die Hogemann deinen Hals angeglotzt hat“, sagte Marc.
„Gehst du davon aus, dass im besagten Haus ein Komplott gegen Brenda stattgefunden hat?“
„Es gibt gewisse Weiber primitivster Natur, die sich nicht eher zufrieden geben, bis sie einer vermeintlichen Nebenbuhlerin das Rückgrat gebrochen haben. Ich habe das kürzlich selbst miterlebt in einem Fall, der sich in der Neubausiedlung 'Am Großen Wehr' zugetragen hat. Aber wiederum kann ich mir kaum vorstellen, dass Brenda sich von solchen gewöhnlichen Frauenzimmern hat einschüchtern lassen. Dazu war sie viel zu intelligent.“
„Diesen Gedanken könnte man noch weiter spinnen, Marc“, sagte ich. „Meine Fantasie hat soeben einen Quantensprung vollführt. Wenn ich dir erzählte, was möglich sein könnte, fielest du vom Tisch.“
„Wieso?“, fragte Marc. „Sitze ich etwa schon wieder auf dem Tisch?“
Ich nickte.
„Nielsen hat sich neulich beschwert. Ich solle mich mit meinem Hintern nicht ständig auf seinen Schreibtisch setzen, von dem er hin und wieder esse.“
„Kann ich gut verstehen.“
„Na ja“, griente Marc. „Hätte Domenik gesagt, '… an dem ich arbeite', hätte ich mich vielleicht dazu überreden lassen, künftig einen freien Stuhl zu benutzen.“
„Was sollte Domenik Nielsen auch sonst hinter seinem Schreibtisch treiben? Ist doch wohl klar, dass er dort arbeitet. - Ich gehe jetzt rüber in die Schule und erkundige mich nach dem Klassenbuch, um herauszufinden, ob Brenda Fehlzeiten hatte. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass sie längere Zeit dem Unterricht ferngeblieben ist.
„Vermutlich war Gott ihr gnädig und hat den Geburtstermin ihres Kindes in die Sommerferien verlegt. Hat Brenda eigentlich regelmäßig am Sportunterricht teilgenommen?“
„Keine Ahnung.“ - Ich zuckte mit den Schultern.
„Weshalb weißt du das nicht, Nora?“
„Weil ich dem Sportunterricht drei, vier Jahre vor dem Abi eine Zeitlang selber fernbleiben musste; mein rechtes Handgelenk lag lange Zeit in Gips, und selbst, als er entfernt worden war, durfte ich noch über Monate hinweg keinen Sport treiben.“
„Lass uns zu unserer alten Schule fahren. Kennst du eigentlich den neuen Direx?“, fragte Marc.
„Woher sollte ich? Ich war seit mindestens zwölf Jahren nicht mehr in Weidenbach. Erst der Mord an Brenda hat mich wieder hierhergeführt.“
„Hätte ja sein können, Nora! Reg dich nicht auf.“

Wir marschierten auf direktem Weg zum Rektorat. Es hatte gerade zur 'Großen Pause' gebimmelt, und wir mussten uns durch einen Pulk von Kindern und Jugendlichen kämpfen, die nicht im Entferntesten daran dachten, 'älteren Herrschaften' Platz zu machen.
Marc pochte an die Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift 'Direktor' angebracht war.
„Herein“, bat eine sonore Stimme.
Marc öffnete und wir traten in einen kleinen Raum, durch dessen frontales Fenster man auf den Finstergang schauen konnte. Die drohenden Finger der expressionistisch angehauchten Pappeln waren nicht zu übersehen.
'Was für eine Kulisse für einen Schuldirektor', dachte ich.
Ein älterer Herr erhob sich von einem Ledersessel mit extrem hoher Rückenlehne und beugte sich über seinen Schreibtisch, um uns mit Handschlag zu begrüßen.

Ich war überrascht – und entzückt. Der Mann hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem ersten Direx, den ich an dieser Schule erlebt und geliebt hatte: Otto Bock, dessen Gesicht wahre Güte ausgestrahlt hatte. Unser damaliger Direktor, der bald darauf in den Ruhestand ging, war durch und durch Lehrer gewesen, ein altmodischer zwar, aber ohne Rohrstock und anderen Gehässigkeiten. Und er liebte Schiller. Er nahm mit uns sehr intensiv „Die Bürgschaft“ durch, die mich tief beeindruckt hatte. Ich konnte sie immer noch auswendig: 'Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande; ihn schlugen die Häscher in Bande. »Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!« entgegnet ihm finster ... '
„... und das ist meine Kollegin Nora Merane von der Hellerburger Mordkommission, hörte ich Marc sagen, der meine gedankliche Rezitation abrupt beendete. "Sie ist hier zur Schule gegangen. Wir ermitteln in einem Mordfall, begangen an einer ehemaligen Schülerin dieser Schule, Brenda Bohlau hieß das Mädel, und möchten Sie bitten, uns Einsicht in die relevanten Klassenbücher zu gewähren." Der Rektor gab mir die Hand und stellte sich mit „Fritz Denzel“ vor.
„Hellerburg“, sinnierte der alte Herr. „Versieht dort nicht mein ehemaliger Schulkollege Stefan Lässahn seinen Dienst?“
„Lass .., äh, Herr Lässahn ist mein Chef, Herr Denzel“, sagte ich. „Er leitet das Dezernat für Gewalt- und Betrugsdelikte beim Kriminalen Ermittlungsdienst. Darf ich ihn von Ihnen grüßen? Es geht ihm derzeit nicht so gut. Er hatte einen Herzinfarkt.“
„Gewiss, Frau Merane“, sagte Fritz Denzel. „Grüßen Sie Stefan ganz herzlich von mir; ich wünsche ihm baldige Genesung. Vielleicht sieht man sich mal wieder. Ich würde mich sehr darüber freuen.“
„Feuerzangenbowle und so?“, griente Marc. „Alte Herren, die einen Lausbubenplan aushecken?“
Möglich ist alles, Herr Keppler“, lachte Rektor Denzel. „Früher saß uns beiden jedenfalls der Schalk im Nacken.“
'Der hat Stefan immer noch nicht verlassen und wird ihn wohl auch nie verlassen. Obwohl Stefan eher für den HSV schwärmt als für Schalke', dachte ich und muss bei diesem Gedanken wohl gelächelt haben, denn Marc sah mich fragend an.

Rektor Denzel hatte seine Sekretärin ins Zimmer gerufen, eine noch relativ junge Frau mit energischen Gesichtszügen, die aussah, als lasse sie sich von den Kids nichts bieten. Eine gute Voraussetzung für diesen Job.

„Frau Meyerhoff führt sie nach unten in den Keller, wo sich unsere Ablagefächer befinden. Dort müsste das Klassenbuch zu finden sein. Es ist alles chronologisch geordnet.“

Wir verabschiedeten uns mit einer Herzlichkeit, als sei die Schule unser Lebensinhalt gewesen, und Marc übertrieb es mal wieder mit der Höflichkeit; jedenfalls wäre ich vor lauter Überraschung fast aus den Turnschuhen gekippt, als er Herrn Denzel zu verstehen gab, er würde liebend gern wieder zur Schule gehen anstatt zu arbeiten. Hatte er in der Schule etwa nicht gearbeitet? Ich konnte mir ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen und Marc bedachte mich mit einem Stirnrunzeln, als hätte ich ihn beim Schwarzfahren in der U-Bahn ertappt, dabei kurvten, soweit ich informiert war, lediglich Busse durch Weidenbach - wenn überhaupt.

Wir folgten Frau Meyerhoff, die mit energischen Schritten vorausschritt. Ihre Absätze klapperten wie Trommelschläge auf den Steinfliesen. Marc und ich trugen Turnschuhe und waren leise wie Kätzchen.

„So, meine Herrschaften, greifen Sie zu“, sagte Fritz Denzels Sekretärin, als wir endlich im Keller standen und die Berge von Klassenbüchern betrachteten, die in den Regalen lagerten. Die Jahreszahlen sind an den seitlichen Streben der Borde angebracht, und darüber hinaus sind sie ja auch noch auf den Etiketten der Klassenbücher selbst notiert. Sie werden keine Mühe haben, das richtige Exemplar zu finden. Hier herrscht Ordnung. Sie bedachte Marc mit einem strengen Blick, dabei war ich die Chaotin.
„Danke, vielmals, Frau Hoffmeyer“, sagteMarc.
„Meyerhoff, bitte. Ich heiße Meyerhoff.“
„Pardon“, sagte Marc. „Aber ich bin so aufgeregt. Gut möglich, dass wir hier etwas finden, das für unseren Fall relevant ist.“
„Schließen Sie bitte ab, wenn Sie hier fertig sind und bringen Sie mir den Schlüssel nach oben.“
„Klar“, sagte Marc. „Wird gemacht, Frau Meyerhoff.“ Er ließ seine Blicke über die Regale schweifen, trat einen Schritt vor und griff sich ein Buch aus einem der Fächer.
„Was hältst du davon, Nora?“, fragte er.
Ich warf ein Auge auf das Etikett und nickte.
„Das kommt tatsächlich in Frage, Marc. Während dieser Zeit hat Brenda kräftig an Gewicht zugelegt.“
Wir schlugen das Buch auf – und staunten nicht schlecht: Das Klassenbuch aus dem Jahr 1991 war praktisch leer. Die Seiten waren sämtlich herausgerissen, und zwischen den Deckeln lag eine Klarsichthülle, die mit unbeschriebenen weißen Blättern vollgestopft war, vermutlich, um Inhalt vorzutäuschen.
„Nora, was ist los mit dir?“, fragte Marc unvermittelt in unser Schweigen.
„Verdächtigst du mich etwa immer noch, Brenda Bohlau ermordet zu haben? Habe ich dir irgendetwas getan? Hast du keine Lust, mit mir zusammenzuarbeiten? Soll ich Lassie Bescheid geben, dass er deinen lieben Frank von Anger nach Weidenbach kommen lässt, um den Fall Brenda gemeinsam mit dir zu klären?“
„Nicht so wichtig, Marc“, sagte ich. Ich hatte kaum zugehört; seine Tirade war an mir vorbeigerauscht wie ein Wasserfall. Ich war noch immer wie vor den Kopf gestoßen über die Tatsache, dass jemand, der vermutlich in den Fall verstrickt war, offenbar etwas derart Nebensächliches vernichtet hatte, das kaum Chancen gehabt hätte, vor Gericht als Beweis anerkannt zu werden.

Fortsetzung folgt am Freitag, den 30. Dezember 2016

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