Im Winter gab es keine Äpfel. In keinem Winter. Nur diese angeschrumpelten Dinger, die täglich aus den sandigen Regalen im Keller aussortiert wurden und in einer großen weißen Emailleschüssel mit einem feinen blauen Rand den Gang ans Tageslicht antraten. Die Voraussetzung dafür, dass sie ins Helle durften, war ihre durch braune Stellen belegte beginnende Vergänglichkeit. Und das Helle war auch nicht wirklich mehr das Tageslicht, es war das warm-gelbe Licht der Wohnzimmerlampe, die abendlich dieselbe Szenerie beschien: Die Familie, im Anschluss an das gemeinsame Abendessen in der ofenwarmen Küche, neu versammelt in dem ebenso ofengewärmten Wohnzimmer, um zu lesen, zu spielen, Mama zuzusehen, wie sie mit Legobausteinen das spätere Eigenheim entwarf oder nach der Tagesschau irgendeine Quizshow zu verfolgen oder einen „Straßenfeger“, wie die ersten schüchternen Krimis zum Mitraten genannt wurden, einen Film über Wildtiere oder eine Eurovisionssendung mit viel Geträller und Gesang, vielleicht auch die seltsamen Welten einer undenkbaren Zukunft zwischen den Sternen im weiten, endlosen, ach so schwarzen All.
Wir Kinder wurden nicht gefragt. Aber das war auch nicht so wichtig, denn egal, was getan oder gesendet wurde, bedeutete es auf jeden Fall gemeinsam erlebte Wärme: Keiner der anderen Räume wurde beheizt, nur die Küche und das Wohnzimmer, eine Zentralheizung gab es bei uns nicht. Kinder- und Schlafzimmer heizte man trotz Ofen nicht ein, das wäre Verschwendung gewesen. Dort konnte man sich ja in die wärmflaschenwarmen Betten kuscheln und machte sowieso nichts anderes als schlafen, das wollen wir doch wohl hoffen!!
Wir Kinder hatten vor dem Eintritt ins Wohnzimmer die allabendliche Zeremonie der Katzenwäsche im eiskalten Badezimmer schon hinter uns: Die Heizschlange über der Tür wurde nur samstags zum Duschtag angemacht, mit einem Zippelband, das sie stets bedrohlich wackeln ließ, bevor sie ihre glutrote Wärme über die ergoß, die die Tollkühnheit besaßen, an diesem Zippelband zu ziehen. Immerhin hatten wir warmes Wasser: Die Glasflamme flackerte bläulich aus dem Dunkel, bereit, mit Getöse das Brauchwasser zu heizen. Erschreckend, wenn man gedankenverloren auf dem Thron saß und nebenan, in der Küche, jemand beschloss, abwaschen zu wollen …
Vor dem Abendbrot in der Küche hatte einer der Erwachsenen immer erst zu tun, meistens Mama nach ihrem Dienst. Wenn Papa nicht auf großer Fahrt war, was manchmal monatelang dauerte, übernahm er diese Aufgabe, manchmal aber auch Oma: Im Wohnzimmer musste der Ofen gereinigt werden. Da wurde dann gerüttelt und geschüttelt, bis alle kalte Asche vom Vortag in dem Auffangbehälter gelandet war. Mit dem eisernen Haken wurde noch nachgestochert, bis auch hartnäckige Schlackereste gefolgt waren. Dann kamen Handfeger und Schaufel zum Einsatz, um ebenfalls alles Danebengefallene in den Schuber zu verfrachten, dessen Inhalt später in den metallenen Asche-Eimer aus Zink auf dem Balkon zwischenentsorgt wurde.
Jetzt ging das Anheizen los: Zerknülltes Zeitungspapier wurde auf den Rost geschichtet, darauf die mit dem spitzen Küchenmesser abgesplitterten feinen Holzspäne, darüber immer größere Holzteile bis hin zu kleinen Scheiten. Dann kam der spannende Moment: Eine Streichholzflamme knusperte sich ins Papier, die Spänchen begannen zu knistern, das Holz fing Feuer und knackte kurz darauf glutrot. Erst wenige Eierbriketts, damit man das junge Feuer nicht erstickte, dann, wenn die ersten von der Glut des Holzes genascht hatten, ein paar mehr, danach konnte man die Durchzugsklappe wieder etwas schließen, den Ofen die Wärme im kalten Zimmer verströmen lassen und sich an den Abendbrottisch in der Küche begeben.
Wenn wir Kinder nach dem Abendessen und vom Gröbsten gesäubert im Schlafanzug und Flanellnachthemd das Wohnzimmer enterten, war es dort schon kuschelig warm. Und Oma Anni saß auf ihrem Sofastammplatz direkt neben dem bollernden Ofen, die weiße Emailleschüssel auf ihrem breiten Schoß, vor sich auf dem Wohnzimmertisch Bogen von Zeitungspapier gebreitet und darauf die ersten Früchte ihrer Arbeit: Gerettete Stücke der verschrumpelten Kellerware, aus der sie mit dem spitzen Küchenmesser säuberlich alle braunen Stellen entfernt hatte. Und obwohl wir nach dem Abendbrot die Zähne geputzt hatten, „durften“ wir zugreifen und das Gerettete verspeisen, ob wir wollten oder nicht. Im Andenken an selber durchgemachte wirklich schlechte Zeiten, war die ganze Familie verpflichtet, der Verschwendung Einhalt zu gebieten durch Verzehr. Es wäre doch zu schade gewesen, etwas wegzuwerfen.
Das abendliche Ritual endete damit, dass alle ausgeschälten braunen Stellen samt der schrumpeligen Schalen und der Kerngehäuse, in Zeitungspapier eingedreht, im Ofen landeten, dort schmorten und zischten und mit einem süßlichen Bratapfelduft dem Abend ein leckeres Highlight aufsetzten.
Und sollten es tatsächlich einmal zu viele Schrumpeldinger gewesen sein, die braune Stellen hatten – nun, dann gab es halt in den nächsten Tagen Apfelkompott zu Mittag.
© noé/2017
Kommentare
Da steckt echtes Leben drin -
Erinnerungen mit viel Sinn!
LG Axel
Genauso haben wir früher unsere Öfen geheizt. Ein Ritual. Als ich ca. zwei Jahre alt war, habe ich mal meine Hand auf die glühende Herdplatte gelegt; mein Kinderwagen stand neben dem Herd. O Mann, das war ... frag nicht nach Sonnenschein. Die Hand wurde eingemehlt, mit Butter beschmiert, mit Milch übergossen; nichts hat geholfen; Vater musste in die Stadt - weiter Weg - und Salbe kaufen. Aber heimelig war 's doch, den Flammen zuzuschauen. Schön hast du das Ingangsetzen des Ofens geschildert.
LG Annelie