Fortsetzung v. Samstag, den 26.11.; Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes 1. Fall; ein Krimi

Bild von Annelie Kelch
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Ich drehte die Fotografie um, las die sechs Worte, die in noch relativ kindlicher Handschrift auf der Rückseite geschrieben standen, und ließ die Aufnahme sinken. Jensen verrenkte sich den Hals - als hinge sein Leben davon ab, wen oder was das Foto darstellte.
„Ich muss hier raus, Marc. Hilf mir!“
„Klar“, sagte Marc. „Ich wusste doch, das du keine Lust hast, dich großartig auszuruhen. Diesen Triumph gönnen wir diesem Bürschchen nicht.“
„Dieses Bürschchen ist mittlerweile ein Mann in deinem Alter und alles andere als harmlos.“
Ich schwang mich aus dem Bett. Mir wurde ein wenig übel dabei, der Hals schmerzte nach wie vor und das Zimmer begann sich plötzlich zu drehen. - Lass dir bloß nicht anmerken, wie sehr dich der Angriff des Würgers geschwächt hat, Nora Merane, beschwor ich mich. Die Weidenbacher bekommen es fertig und überreden Stefan, dich vom Fall abzuziehen.
„Merane, Sie wollen doch nicht etwa aus dem Krankenhaus abhauen?“, fragte Jensen. Er sah mich wütend an.
„Wonach sieht es denn aus, Jensen?“, fragte ich. „Der Fall muss aufgeklärt werden. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr Spuren gehen uns durch die Lappen.“
Marc zog – elegant wie ein Zauberer - einen roten Seidenschal aus der Innentasche seines Parkas und überreichte ihn mir.
„Haben Sie auch noch irgendwo ein Kaninchen versteckt, Keppler?“, fragte Jensen.
„Nächstes Mal, Jensen“, parierte Marc. „Nächstes Mal bekommen Sie ihr Kaninchen und dann ab damit in den Kopftopf, was Jensen?
Und du, Nora, solltest deinen Hals für ein Weilchen tarnen. Wie gefällt er dir?, ich meine natürlich den Schal und nicht deinen wehen Schlund; der sieht wirklich zum Erbarmen aus.“
„Wundervoll, ich danke dir“, sagte ich. „Obwohl ich eine Abneigung gegen Schals hege und seit gestern Nacht hat sich dieses Gefühl ganz erheblich verstärkt. Ich wage nicht daran zu denken, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn ich ein Halstuch getragen hätte.
Aber wie kommt Jensen eigentlich darauf, dass ich dich des Mordes an Brenda bezichtigt hätte? Das entspricht doch überhaupt nicht der Wahrheit. Ich habe dir lediglich die üblichen Fragen gestellt, Marc – Fragen, die ich jedem stellen würde, der in letzter Zeit Kontakt zu Brenda hatte.“
„Weiß ich auch nicht,“ griente Marc. „Ja, wie kommen Sie eigentlich darauf, Jensen? Ach, sparen Sie sich ihre Antwort und begeben Sie sich jetzt bitte auf die Wache. Sie werden dort dringend gebraucht.“
Jensen lief rot an und ballte die Fäuste.
„Keppler hat recht, Adam“, sagte ich. „Die warten dort sicher schon händeringend auf Sie. Und tausend Dank, dass Sie mich letzte Nacht so gut behütet haben.“
Jensen drehte sich wortlos um und verließ das Krankenzimmer.
„Der hat irgendetwas mit dem Mord an Brenda zu tun. Findest du nicht auch, dass Adam Jensen von Tag zu Tag merkwürdiger wird, Nora?“
„Möglicherweise“, gab ich zu, „aber er hat sie ganz sicher nicht ermordet.“
Ich stand vom Bett auf, um nach nebenan ins Bad zu gehen.
„Ich warte vor der Tür, Nora, tue einfach so, als sei ich die Wachablösung für Jensen. Das Beste wird sein, wir schleichen uns durch den Hintereingang. Beeil dich, sonst kommt uns die Stationsschwester noch in die Quere.“ Marc nickte mir aufmunternd zu, bevor er die Zimmertür schloss.
Ich war froh, dass er nicht beleidigt war, weil ich ihn für den Würger gehalten hatte. Dem Himmel sei Dank, dass er dieses Foto bei Brenda gefunden hat, dachte ich. Das war mehr als Glück – das war ein Zeichen im Dickicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Danach konnte er mir meinen Verdacht nicht mehr übelnehmen.

Wir liefen über den langen Krankenhauskorridor, rasten die Treppe vor dem Hintereingang hinunter und sprangen in den Streifenwagen, den Marc am Straßenrand geparkt hatte. Marc fuhr sofort los.
„Warst du heute schon im Einsatz?“, fragte ich.
„Ich hab mir vorhin noch einmal die Gegend neben dem Apfelgarten angeschaut. Der Kerl muss über das Grundstück hinter dem Amtsgericht entkommen sein. Das ist fast ebenso verwildert wie das Gelände rund um den Finstergang. Weshalb man die ganze Chose noch nicht saniert hat, ist mir ein Rätsel. Vielleicht rührt sich ja jetzt endlich was, nachdem dieser schreckliche Mord passiert ist.“
„Hoffentlich finden wir nicht noch mehr Leichen im Apfelgarten, Marc“, sagte ich. „Wir sollten beantragen, dass Leichenspürhunde eingesetzt werden. Ich habe das ungute Gefühl, dass dieser „Leander“ etwas ganz Bestimmtes darin gesucht hat - und mit Sicherheit keinen Goldschatz. - Weshalb hältst du hier, mitten in der Stadt?“
„Wir müssen noch in die Zoohandlung“, sagte Marc und lächelte. „Santo, dein Lebensretter, hat ein Leckerli verdient. Wie heißt noch mal das Zeug aus der Werbung? 'Super-Premium-Trockenfutter für den guten Hund' oder so ähnlich, glaub' ich.“
„Dass ich daran nicht gedacht habe“, sagte ich und schämte mich fast dafür; mein Kopf hatte zu schmerzen begonnen, während sich mein Hals allmählich zu beruhigen schien.
Wir kauften ein paar Dosen Luxus-Hundefutter und ich setzte mich wieder in den Wagen, während Marc zur Apotheke am Marktplatz lief, um ein paar Schmerztabletten für mich zu besorgen. Dann fuhren wir durch den Finstergang. Ich blickte stur geradeaus.
„Wirf einen Blick in den Apfelgarten“, sagte Marc. „Vom Wagen aus; hier bist du sicher. Je eher, desto besser. Du wirst ihn noch öfter betreten müssen, allerdings nicht mehr allein und keinesfalls bei Nacht.“ Er bremste und ich drehte meinen Kopf zur Seite. Nur wenige Meter trennten mich von der Stelle, an der 'Leander' meinem Leben ein Ende setzen wollte. Ich seufzte.
„Wenn ich den erwische“, sagte Marc.
Kollberg öffnete die Tür. Er schien hocherfreut, uns zu sehen. Santo kam um die Ecke geflitzt und sprang an mir hoch. Ich wusste absolut nicht, womit ich mir die Liebe dieses Hundes verdient hatte. Möglicherweise sind selbst normale, nicht zur Rettung von Menschenleben ausgebildete Hunde schlau genug zu erkennen, wann so ein Zweibeiner in Gefahr schwebt. Möglicherweise wusste Santo gar, dass er mich gerettet hatte und war stolz darauf. Möglicherweise war ich sozusagen der lebende Beweis für seinen Mut und seine Klugheit.

Wir hätschelten das Tier, das völlig außer Rand und Band geriet, und Kollberg füllte Santos Fressnapf. Marc zauberte eine Flasche Wein aus seinem Parka, der tausend Taschen zu haben schien, und stellte sie auf den Tisch neben Kollbergs Flurgarderobe.
„Frau Merane hat vorläufig die Nase voll von Alleingängen, Herr Kollberg“, sagte er. „Das hätte schlimm für sie ausgehen können, wenn Ihr Santo nicht gewesen wäre. Tausend Dank.“
Ich beeilte mich ihm beizupflichten. Santo gefiel mir – bedeutend besser als diese Bullterrier, die man gottlob aus dem Ausland nicht mehr importieren durfte und in fast allen Bundesländern verboten waren. Nicht auszudenken, wenn Kollberg Herrchen eines solchen Köters gewesen wäre. Der hätte nicht nur diesen mysteriösen 'Leander' zerfleischt, der Marc wie einem eineiigen Zwillingsbruder ähnelte, sondern obendrein auch mich. Es handelte sich bei dieser Kreatur immerhin um den drittgefährlichsten Hund der Welt.

Kollberg wollte Kaffee kochen, aber Marc lehnte dankend ab; er habe mich gerade aus dem Spital entführt und ich müsse, wenn es mit rechten Dingen zuginge, hundemüde sein. Wir versprachen ihm und Santo, uns so bald wie möglich wieder blicken zu lassen und fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben in Marcs Appartement. Er hatte während meiner Abwesenheit den Kühlschrank aufgefüllt, und ich war froh, dass ich mir fürs Erste keine Gedanken über meine Verpflegung machen brauchte.
Ich fiel auf die Couch und schlief sofort ein. Als ich aufwachte, saß Marc neben mir und starrte auf die Fotografie.

„Er war damals zwischen vierzehn und sechzehn, sieht dir zum Verwechseln ähnlich, auch heute noch, und ist zirka zehn bis zwanzig Zentimeter größer als du“, sagte ich.
„Dann ist er heute ungefähr in meinem Alter“, sagte Marc.
„Und gefährlicher als ein Amerikanischer Pittbull“, ergänzte ich. „Die gefährlichste Hunderasse überhaupt.“
„Scheint so, als seist du auf den Hund gekommen“, sagte Marc. „Ich wusste gar nicht, dass du soviel von Hunden verstehst. Santo war ja ziemlich begeistert von dir.“
„Ich bin der beste Beweis für seine Intelligenz“, sagte ich. „Er wusste, dass wir einzig und allein seinetwegen Kollberg besucht haben; vielleicht hat er uns gar erwartet.“
„Du solltest zur Hundestaffel wechseln, Nora“, grinste Marc. „Was hältst du von dem Geschreibsel auf der Rückseite der Aufnahme. Pubertäre Fantasien?“

„Wir gehen davon aus, dass Brenda diesen Leander kennengelernt hat, wie und wo auch immer. Sie hat sich in ihn verliebt oder umgekehrt oder beide waren an dem Gefühl beteiligt. Irgendwann hat er wieder fort müssen – ein Feriengast? Bei wem? Eventuell bei Nachbarn?“

Marc hatte Tee gekocht, und ich nahm einen Schluck; er brannte im Hals, tat aber meinem leeren Magen gut.
„Und er ist wiedergekommen – nach so langen Jahren“, sagte Marc. „Ich habe auch Brötchen gekauft. Willst du eines?“
„Kann 's ja mal versuchen. Eventuell klappt es schon wieder mit dem Schlucken.“
Marc ging in die Küche und kam mit einem Teller belegter Brötchen wieder. Zum Glück war auch was mit Käse dabei; Fleisch und Wurst hatte ich schon vor Jahren von meinem Speisezettel gestrichen.
„Sechs Worte“, sagte Marc.
„'Brenda - für alle Ewigkeit, dein Leander'“, zitierte ich.
„Weshalb hast du mir eigentlich kein Foto von dir geschenkt, als ich damals die Schule wechseln musste?“, fragte Marc. „Diese Lehrer, dabei hab ich ein supergutes Abitur hingelegt.“
„Damals waren deine Leistungen aber eben nicht so gut“, nahm ich unsere Pauker in Schutz.
„Weil du mich abgelenkt hast, Nora.“
„Das ist ja wohl ein Witz, Marc. Du hast nicht genug gelernt; das war der Knackpunkt. Und ein Foto hast du nicht bekommen, weil du auf mich nicht den Eindruck gemacht, als wolltest du eines von mir haben.“
„Lassen wir die alten Geschichten“, sagte Marc. „Wie soll ich dir jemals klarmachen, dass ich …“
„Ja?“, fragte ich. „Dass du was …?“
„Nicht so wichtig, Nora. - Dieser Jensen steckt da irgendwie mit drin. Wenn ich wüsste, was der für eine Rolle in unserem Mordfall spielt. Wir sollten so schnell wie möglich nach Hamburg fahren um herauszufinden, ob in dem Fotogeschäft noch eine Anschrift existiert.“
„Nach all den Jahren – so gut wie unmöglich. Lass uns zuvor die Leute im Querweg befragen. Eventuell wohnen dort noch ehemalige Nachbarn von Brendas Mutter. Wir zeigen das Foto herum und könnten nebenher eine Fahndung laufen lassen.“
„Damit meine Kollegen mich verhaften, weil ich das Ebenbild von diesem Kerl bin?“, fragte Marc. „Nein danke, Nora. Adam Jensen lacht sich doch ins Fäustchen. Eher recherchiere ich von früh bis spät, und zwar solange, bis ich den Kerl gefunden habe.“ Er sah auf seine Armbanduhr.
„Ich mache dir einen Vorschlag: Ich fahre jetzt zur Wache und sehe dort nach dem Rechten. Du ruhst dich derweil noch ein wenig aus, siehst ja ganz blass aus. Und iss endlich was Vernünftiges. Im Kühlfach liegt noch 'ne Pizza, die kannst du in der Mikrowelle auftaun. Ich bin in zwei, drei Stunden wieder zurück. Wir könnten dann zusammen in die Querstraße fahren, um ehemalige Nachbarn von Brendas Mutter ausfindig zu machen. D'accord? Und schau lieber nicht aus dem Küchenfenster, anderenfalls kommst du nochmals auf die Idee, dem Apfelgarten einen Besuch abzustatten. Wir sollten den guten Santo nicht überfordern.“
„Certainement pas“, sagte ich. „Ganz gewiss nicht.“

Marc beugte sich zu mir hinunter und gab mir einen leichten Kuss auf die Wange. Gleich darauf rannte er aus dem Zimmer, als befürchtete er, ich würde ihn deswegen tadeln.
Ich lag da und machte mir Gedanken. Was war passiert während der Zeit, die wir getrennt voneinander verbracht hatten? Gab es irgendein Erlebnis, das ihn quälte?
Es hatte keinen Sinn, ihn danach zu fragen. Marc würde mir keine Antwort geben. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich in Geduld zu fassen.

Fortsetzung folgt am Freitag, den 02. Dezember 2016

Interne Verweise

Kommentare

29. Nov 2016

Krimi-Spannung, stark und pur -
Gern bleibt der Leser auf der Spur!
(Krause meint: "Der Fall is klar!
Zarah Leander Täta war!")

LG Axel

30. Nov 2016

Mein Gott, das fällt mir jetzt erst auf.
Ist 's möglich: Krause hat was drauf!

LG Annelie