Gefährlicher Sommer (Teil 2) - Page 4

Bild von Annelie Kelch
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willst, musst du wohl mit uns vorlieb nehmen“, sagte er und sah mich heraus­fordernd an. Er war fast einen Kopf größer als ich und trug glattes, an den Seiten kurzge­schnittenes schwar­zes Haar. Ein paar wider­spenstige Strähnen fielen in seine Stirn. Aus einem mageren, sonnen­gebräunten Gesicht funkelten mich zwei grau­blaue Augen ver­wegen an. Seine schlacksige Gestalt wirkte fast ha­ger. Den schmalen Oberkör­per be­deckte ein schlichtes Baum­wollhemd, dessen Farbe mit „jenseits von Blütenweiß“ exakt beschrieben war. Es fiel eher zipfelig als salopp über mitternachtsblaue Nieten­hosen, die knalleng an seiner Haut klebten, wo­durch seine langen dünnen Beine noch um eini­ges staksiger wirkten. Lauf­werkzeuge dieser Art nennen wir Killer-Tangen­ten, weil sie unter den Schultischen hindurch meilenweit in die Gänge ragen und man ständig auf der Hut sein muss, auf dem Weg zur Tafel, der für die meisten von uns schon qualvoll genug ist, nicht auch noch zu stolpern und sich das Genick zu brechen.

Eher Tick, Trick und Track als „halbstark“, dachte ich amüsiert, nachdem sich meine Fassungslosigkeit gelegt hatte. Fehlt nur noch, dass Onkel Donald gleich auf­kreuzt. Fast hätte ich mich umgedreht und nach dem Enterich Aus­schau gehalten. Wären die Kindsköpfe zu Viert gewe­sen, hätten sie mich umzingeln können. – Sie haben es gar nicht erst versucht.
Ich starrte auf die braun gebrannten Füße des Leithammels dieser Zwergencli­que; sie stecken in ursprünglich schwarzen, ziemlich ausgelatschten Turnschu­hen, auf denen sich eine schmutzig graue Staubschicht angesiedelt hatte. Kein Wunder! Während der heißen Sommer­monate wabert der knochentrocke­ne Staub wie schmutzi­ger Puder­zucker nicht allein über den glühen­den Feldwe­gen, son­dern auch über der Allee und dem Kopfstein­pflaster im Hof und wird mit jedem Schritt hochgewirbelt.

Als ich immer noch schwieg, nahm der hartnäckige Knabe er­neut Anlauf und behauptete kess: „Deine Busenfreundin(!), die Pechmarie Stinetri­ne (!), hat sich ja wohl das Bein ge­brochen.“ –
„So ein Blödsinn!“, entgegnete ich wütend, „erstens heißt meine Freundin nicht Stinetrine, sondern Christine, zwei­tens ist sie keine Pechmarie, sondern ein ganz normales junges Mädchen, und drittens hat sie sich nicht das Bein, son­dern das Sprungge­lenk gebrochen.“
„Das ist ja wohl ...“ –
„Längst nicht ein- und dasselbe, Hannes(!)“, widersprach eine ver­traute Altweiberstimme neben mir, bevor Hänschen Wichtigtuer seinen Satz beenden konnte. – Leni! – Sie war urplötzlich aus dem rapsgelben Feld aufge­taucht. Im Arm hielt sie einen riesigen Strauß aus Kornblu­men und wil­der Kamil­le. Vermutlich hatte sie den Rest dieses blödsinnigen Dialogs mitbekom­men.

„Über­morgen geht's in den Kirschgar­ten, Kinder, zum Süßkirschen-Pflücken. Jede Hilfe ist will­kommen. Wer Lust hat und sich sattessen möchte ...“ –
„Mhmm, große Klasse, ich komme be­stimmt“, rief das fremde Mädchen. Leni lachte und legte ihren Arm um mich. „Na, Kathinka, dann lass uns mal nach den Hühner schauen, bevor du dich ganz und gar in Selbstmit­leid auflöst. Wie wäre es, wenn du einen langen Brief an Christine schreibst? Darüber wird sie sich gewiss freuen, die Ärmste. Im Kranken­haus! Bei diesem Wetter! Und zu allem Unglück auch noch in den Ferien! Sei froh, dass du ge­sund bist und lau­fen kannst.“ – Typisch Leni: weit über siebzig und hat sich noch nie beklagt, ob­wohl ihr die harte Arbeit im Haus und auf dem Hof sehr viel Kraft abver­langt.
Beim Abendessen grübelte ich immer noch Lenis Worten nach. Ein Wirrwarr aus verschwommenen Gedanken rotierte wie ein Mühlrad unaufhörlich in mei­nem Kopf herum. Was ich jedoch hundertprozentig begriffen hatte, war, dass sich ein Schat­ten auf meine heißersehnten Sommerferien gesenkt hatte, der Schatten eines Bremer Hausmeisters mit Bohnerfimmel. Ich hätte ihn gern zur Rede gestellt.

Leni hat Recht! Christine verdient Mit­gefühl, nicht ich, fiel es mir irgend­wann wie Schuppen von den Augen. Ich schämte mich sehr für mein Verhalten am Nachmittag. Ob­wohl ... Unsinn! –

Wie im Wachtraum schob sich mit einem Mal ein seltsames Bild vor mein Gesicht. Es glich einer Szene, die mir zwar bekannt vorkam, die jedoch zwei­felsfrei in der Zukunft zu liegen schien:

Wir saßen auf den heißen, stark zerschlissenen Kunstledersitzen im Abteil eines Zwei­ter-Klasse-Waggons, Mutti und ich. Das Dampfross war geisterhaft leer und glitt nahezu geräusch­los über die Schie­nen. Den ge­quälten Ausdruck auf meinem Gesicht zu deu­ten, fiel mir nicht schwer: Allem An­schein nach war mir speiübel. Schuld daran gab ich einer abgestandenen Luft, die über den muffigen Polstern schwebte (ich konnte sie förm­lich riechen). Die brach­liegenden Feld­er, die draußen an uns vorüberwehten, glänzten in der reglos brennen­den Sonne wie gefrorener, funkelnder Schnee.
Geistesabwesend be­trachtete ich die im Mittagslicht brütende, grenzenlose Landschaft, ein absurder Traum, der vorbeiflog, als wollte er von der Ge­schwindigkeit des Zuges getilgt werden. -
Mutti stieß einen tiefen Seuf­zer aus und fragte mit seltsam ton­loser Stimme: „Hättest du gedacht, dass deine Som­merferien auf diese Weise enden würden, Katja?“ –
Ich gab keine Ant­wort; ich starrte wortlos aus dem Fenster. – Eine seltsame Sehnsucht, ein wie im Nebel liegender Gedanke, der mit entglitt, bevor ich ihn benennen konnte, hatte mein Herz gepackt und ganz und gar von mir Be­sitz ergriffen. Das beklem­mende Gefühl brodelte in jeder Zelle mei­nes Kör­pers, als sei es aus dem Tag­traum heraus- und geradewegs in mich hineinge­flüchtet. Es brannte wie hefti­ges Heimweh, schnürte mir die Kehle zu und tat mör­derisch weh. Mir wollte absolut nicht in den Sinn, welchen Menschen ich außer Christine so schreck­lich vermisste. Ich ahnte dunkel, dass es irgendwer vom Hof oder aus dem Dorf sein musste. Mein Herz fühlte sich an, als presste es jemand mit einer Schraub­zwinge zu­sammen.

Ich erblickte meine eigene Gestalt, die sich in einem antiquierten Bahncoupé an die Ödnis eines braun karierten, brüchigen Polsters schmiegte und teil­nahmslos, ohne vermutlich auch nur einen einzigen Halm wahrzunehmen, aus dem Fenster starrte, als säße dort eine Zwillings­schwester, zig Meilen von mir entfernt, von deren Existenz ich nicht das Ge­ringste geahnt hatte, deren Kummer ich jedoch am eigenen Leibe verspürte – jetzt und hier.

Als das düstere Bild aus dem Rahmen glitt, wich zwar der Schmerz, aber ich spürte eine grauenvolle Angst in mir hochsteigen; sie fühlte sich namen­los an und diffus – wie der Strahlenkegel einer Taschenlampe, der sich während einer finsteren Nacht über ein tosendes Meer tastet.

„Katja, wenn du müde bist, solltest du schlafen gehen! Gib wenigstens Acht, dass du nicht vom Stuhl kippst!“, sagte Mutti nach dem Abendessen. Ihre Stimme klang wieder mal ekel­haft ironisch.
Du verkorkster elender Sommer, wütete mein enttäuschtes Herz. Stör­risch wie ein Maulesel und mit dem Löwenmut aller Ver­zweifelten fasste ich einen folgen­schweren Ent­schluss. In einem gütlichen Schnellverfahren (ohne Richter und Schöffen) erteilte ich dem unheilvollen Stern, unter den meine langersehn­ten Ferien geraten waren, eine saftige Auflage:

Er habe schleunigst für einen unvergesslichen,
(guts-)herrlichen Lachauer Aufenthalt zu sorgen, für einen extrem
spannenden Aufenthalt, der alles, aber auch alles in den Schat­ten stellte,
was mir je an Abenteuern widerfahren war,

anderenfalls verginge ihm bald das Funkeln. Sollte er nämlich eine Zusammen­arbeit mit mir verweigern, brauchte er sich künftig nicht mehr am nächtlichen Himmelsgewölbe blicken zu lassen (lebenslänglicher Donnerwolkenarrest). Der himmlische Vater und die En­glein wüssten Bescheid.

Ich be­schränkte den Abenteuer-Zeitraum keines­wegs auf die schul­freien Wochen, die ich seit Adam und Eva auf dem Gut verbrachte; viel­mehr warf ich meine sämtlich verglühten Erdentage in die Waagschale, den gelebten Batzen Zeit, der gelegentlich ins Haus meiner Erinnerung schneit. Es kam über­haupt nicht in Frage, dass ich das mir in Aus­sicht ge­stellte uner­trägliche Los, zum Sterben langweilige Ferientage verbrin­gen zu müssen, widerspruchslos er­tragen würde. Im Gegenteil: Der vor mir lie­gende Sommer hatte mit Ab­stand die spannendste Epoche meines Lebens zu werden. Schließlich war ich nicht nach Lachau ge­fahren, um von früh bis spät gefräßige Hühner zu füttern, rosi­ge Fer­kelchen zu knut­schen und Muttis nervtö­tendem Geschnatter über ausgestellte Röcke mit albernen Kellerfalten, die das Knie umspielen (grins!), plissierte Blu­sen mit Fledermausärmeln (grusel!) und Alpenveilchen in den Farben lila x rosa gesprenkelt zu lauschen. (Demnächst züchtet die „geniale Mensch­heit“ wo­möglich Elefanten mit Ziegenbärtchen oder Hühner mit Papageienschnäbel.)
Ich ahnte in meinen kühnsten Träumen nicht, welch unheilvolle Lawine im Be­griff war, sich mit vernichten­der Kraft über das friedvolle Gut zu wälzen – durchaus nicht ver­gleichbar mit dem lächerlichen Stein, den ich ins Rollen brin­gen woll­te, und weitaus gefährli­cher als dieser. Schuld daran war einzig und al­lein mei­ne un­verwüstlichen Energie, die sich all­mählich aus der tiefsten Gruft meines Her­zens empor­kämpfte, wohin sie sich nach der Verkün­dung der Schreckens­botschaft durch Tante Agnes feige verkrümelt hatte.

Es kam wie es kommen musste: Noch vor meiner Abreise hatte sich das Le­ben auf dem ruhigen Anwesen dramatisch verändert. Nichts war mehr so, wie es früher einmal war, früher ... Die Idylle auf Lachau schien für immer zer­stört. Jeder im Dorf und auf auf dem verträumten Gutshof, der nicht in den grausa­men Mord an Knut Knudsen verwickelt war, glaubte, aus einem tiefen Dorn­röschenschlaf erwacht zu sein. Allen voran die Gnädigste, wie wir Frau Brand­ner, unsere charmante Gönnerin, insge­heim nannten. Diesen schwülstigen Titel, der die ed­le Gesin­nung ihrer Herrin zum Ausdruck bringen sollte, hatte Leni ausgebrütet, vermut­lich wäh­rend einer ihrer schlaflosen Nächte. Oma hingegen war der festen Meinung, er stamme aus der Endlosproduktion jener Fortset­zungs-Schmachtfetzen von Hedwig Courths-Mahler. Wo Leni diese romanti­schen Schmöker wohl ver­steckt hielt? Die Fächer in ihrem kleinen Bücher­schrank teilten sich je­denfalls Dosto­jewskij, Tolstoi und Thomas Mann. Sie dufteten alle­samt herr­lich, ähnlich wie ihre dezent gemusterten, von Oma geschneiderten Taftkleider – nach Lavendel uralt. Ich hatte Lenis Bücher längst alle gelesen. Sie zierte sich nicht mit dem Verleihen, und es hatte in den letzten Jahren mehr als genug ver­regnete Ferien­tage auf Lachau gegeben, in denen sich der Hof in ein von riesi­gen Pfützen durchzoge­nes Schlammgefilde verwandelte, das man nur mit Gum­mistiefeln er­obern konnte.

Damals jedoch, am Tag unserer Ankunft auf Lachau, beim ersten gemeinsa­men Abendessen, stahl sich in meine wilde Entschlossenheit nicht der lei­seste Zweifel: Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich in späteren Jahren zwar mit Schaudern, jedoch nicht ohne Stolz auf die vor mir liegenden Ferien­tage, die wie ein Alb­traum begonnen hatten und wie ein Albtraum enden sollten, würde zurück­blicken können. Kurz und schlicht: Ich nahm mir vor, Hof Lachau die toll­kühnsten Wochen seit der Jahrhundert­wende zu be­scheren. Kostete es, was es wollte! Das war ich Christine schuldig! Von wegen einen einzigen ... haufenweise Briefe wollte ich ihr schreiben – nicht weniger als vierhundert Zei­len täglich – in aller Ausführlichkeit, mit haar­sträubenden Ge­schichten.
Die Clique kam mir gerade recht. Ich würde irgendetwas anstellen müssen, um den Stein ins Rollen zu bringen, irgendwas total Verrücktes! Von wegen „Trau­erweide“! Das könnte denen so passen! Er sollte mich kennenler­nen, dieser un­verschämte Hannes!

Die Namen sind – bis auf zwei – geändert ... im Übrigen haben die meisten der von mir geschilderten Menschen wenig Ähnlichkeit mit sich selber ... außer vielleicht Leni, Oma, Opa, die Gnädigste, Tante Agnes und meine Person: hier die Katja. Ich habe mich bemüht, den Roman anhand der neuen Rechtschreibung aufs Papier zu bringen und bitte um Nachsicht, falls es mir nicht überall gelungen sein sollte – weil die neue Rechtschreibung für meine Begriffe in mancher Hinsicht nicht nachvollziehbar und lachhaft ist. – Und danke, ihr Lieben, dass ihr mir bis hierher gefolgt seid und offenbar abwarten könnt, bis es wirklich spannend wird, Annelie.

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Kommentare

30. Jul 2017

Alles läuft hier sehr plastisch ab -
So bleibt der Leser stets auf Trab!
(Dass Putzaktionen gefährlich sind -
Weiß ja [laut Krause] jedes Kind ...)

LG Axel

30. Jul 2017

Dank, lieber Axel, dir, für deinen Kommentar;
ich mal, wo nicht gestreut, auf Glatteis hingefallen war.
Brach mir das Sprunggelenk und konnte lange, lange, nicht mehr laufen
und leider auch keine Treppen steigen -
Mein Ältester, der Chrischan, trug auf Händen mich hinauf gar in den vierten Stock,
dankbar für 's ganze Leben bin ich ihm dafür (war ja selber nur eine halbe Portion):
Das alles war für mich ein großer Schock.
Doch hab' ich Schmerzengeld nicht schlecht dafür bekommen:
den Anspruch hatte keiner mir genommen
und auch nicht nehmen können.

LG Annelie

30. Jul 2017

Ein lebendiger Text, bin gespannt darauf, wie es weiter geht. Selbst, wenn du Namen änderst und Personen erfindest, erfahre ich doch so etwas über die lebendige Annelie und ihr spannendes Leben, und das freut mich.

Lieb Grüße - Marie

30. Jul 2017

Liebe Marie, danke für deinen lieben Kommentar. Deshalb widme ich ja auch dir dieses Buch. Irgendwann werde ich es drucken (lassen), auch deshalb, weil die Illustrationen in Wahrheit viel schöner sind, als auf der kleinen Collage am Ende.

Liebe Grüße,
Annelie

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