Gefährlicher Sommer (Teil 2) - Page 3

Bild von Annelie Kelch
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aller Selbstverständlichkeit der Welt durch den Hin­tereingang gera­dewegs ins Haus hinein, um Markus zu suchen. Mir wäre nie­mals in den Sinn gekom­men, dass Bettina sich der­maßen hoch­mütig aufführen könnte.

Gedankenverloren starrte ich auf die alten Gehöfte, die hier und dort daran erinnern, dass auch Menschen in der kargen Heidelandschaft leben, in aller Ru­he und Abgeschie­denheit, weit entfernt vom Lärm der Städte. Durch die naturge­schützte Land­schaft schlängelten sich zahlreiche Wanderwege, und auf der Besenhei­de, die im raschen Wechsel mit Glockenhei­de, Getreidefel­dern, Wiesen und Moorsied­lungen am Abteilfen­ster vorüberflog, grasten die putzi­gen Heid­schnucken. Ich stand auf, nahm meine Umhängetasche aus dem Gepäck­netz, und zog das Buch hervor, das ich mir aus der Bücherei gelie­hen hatte. Der Band hieß „Unterm Rad“, ein Jugendroman von Hermann Hesse. Bald darauf war ich der­maßen intensiv in den spannenden Text versunken, dass ich alles um mich herum ver­gaß. Erst als die eindringlich klingende Durch­sage eines Bahn­beamten durch den Lautsprecher dröhnte und ankündigte, dass wir in weni­gen Minuten Lübeck er­reichten und sofort An­schluss an einen Personen­zug nach Fehmarn hätten, erwachte ich wie aus einem tiefen Traum. Der Schnellzug unterbrach seinen gleichförmigen Rhythmus, ver­langsamte die Fahrt, und als er mit lautem Quietschen zum Halten kam und die schrille Pfeife eines Schaffners an mein Ohr drang, klappte ich hastig das Buch zu und stand auf. Muttis Koffer ist wieder mal schwer wie Blei; wir müssen ihn den Gang runter­schleppen, dachte ich voller Unruhe, während der Zug über ein Weichengeflecht in den Lübecker Bahnhof rumpelte.

***

„Es tut mir ja so leid. Entschuldigen Sie bitte vielmals“, hörte ich meine Mutter im nächsten Moment neben mir stammeln. Puterrot war ihr Ge­sicht. Aber wo um alles in der Welt war ihr riesiger brauner Leder­koffer hingeraten? Das Ge­päcknetz gähnte vor Leere - wie unser Städtisches Schwimmbad im Winter­. – Allmächti­ger! Das Monstrum war auf dem Schoss des älteren Herrn gelandet, der Mutti seit Lüneburg gegenüber­saß. Er starrte uns aus schreckge­weiteten Augen an und schien mit aller Macht gegen den Schmerz zu kämpfen. Mutti und ich verharrten beklommen im Gang – in ange­messener Entfernung –, falls die Rache des malträtierten Fahr­gasts allzu drastisch aus­fallen sollte. – „Aber beruhigen Sie sich doch, beste Frau“, bat der tapfere Mensch nach einigen ban­gen Sekunden. „Ein einziges Wort von Ihnen, und ich hätte den Koffer aus dem Netz geholt. Er ist ja viel zu schwer für Sie.“ Kunststück, dachte ich. Bei all den vielen Kleidungs­stücken und Schuhen, die sie wieder mal eingepackt hat. Ich frage mich nämlich schon seit län­gerem, wem Mutti mit ihren extrava­ganten Gewändern imponieren will. Oder plant sie womöglich eine Moden­schau? – In den Stallungen? – Für die Lachauer Pferde, Kühe und Schweine? – Da lachen doch die Hühner!

* * *

„Es tut mir ja so leid, Katja“, stammelte auch die gute Tante Agnes. „Stine(!)“ hat sich vor drei Tagen das Sprunggelenk gebrochen; sie ist in der Schule auf dem frisch geboh­nerten Korridor ausgerutscht und liegt seit einer Woche im Krankenhaus.“
Damit hatte ich nicht gerechnet. Die Schreckensnachricht traf mich wie ein Keulen­schlag, nein, viel schlimmer: Sie fuhr wie ein gigantischer Blitz mitten durch mein Herz. Ich stellte mir vor, wie die meinen Sommer erdolchende Hiobsbotschaft schadenfroh hinter dem mächtigen Stamm der Eiche neben dem Herrenhaus gelauert hatte, um mich trotz dieser brütenden Hitze eiskalt zu erwischen.
Sekun­denlang stand ich da wie vom Donner gerührt! Was war Hof Lachau ohne Christine? Was waren über­haupt die Sommerferien ohne Christine? Am liebsten hätte ich los­geheult. Auf einen derart infamen Schicksalsschlag war ich nicht gefasst gewesen. Mich hatte in dieser Hinsicht nicht die geringste Vorahnung geplagt. Opa sah mich mitfühlend an.
„Wie wäre es, wenn du die Tiere be­grüßt? – Oder Leni? Sie hat sich so sehr auf dich gefreut. Aufs Rapsfeld, gleich hinter der großen Scheune, wollte sie.“
Wie praktisch, dachte ich voller Bitterkeit, das ist ja auch gleich ein geeigneter Platz, um meine Ferienträume endgültig zu begraben. Vielen Dank, Herr Hausmeister (oder wer sonst wie ein Verrückter die Schulkorridore zu bohnern pflegt)!
Ohne einen Blick für die Tiere und die blühenden Pflanzen am Wegrand, die ich das ganze Jahr über vermisst hatte, trottete ich den Feldweg entlang, der an den Kuhställen vorbei zum Rapsfeld führt. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und nicht die Beherrschung zu verlieren: Die Welt war gerade untergegangen, nichts weiter. Ein guter Tag, um ohne Reue zu sterben.
Leni ist Omas beste Freundin und der gute Geist auf Hof Lachau. Ich habe sie wirk­lich sehr gern. Aber selbst Leni kann Christine nicht ersetzen. Am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Hause ge­fahren. Dort konnte ich mir wenigstens ein paar Bücher ausleihen; unsere Stadt­bibliothek blieb ja während der Ferien­zeit ge­öffnet. Außerdem standen die Chancen nicht schlecht, dass Harry mir irgendwo über den Weg lief, beim „Italiener“ oder im Freibad, falls er nicht verreist war. Ich är­gerte mich, dass ich bei unserer letzten Begegnung auf dem Schulhof vor lauter Auf­geregtheit vergaß, ihn da­nach zu fragen. Vermut­lich hatte ich mich wie eine verlieb­te Gans benom­men. Es wäre das reinste Wunder, wenn Harry mir schreiben würde.

***

„Ja, wen haben wir denn da? Ein zweibeiniges Exemplar der Gattung Trauer­weide, die mitteleuropäische Salix babylonica, wenn mich meine ge­blendeten Gucker nicht an der Nase rumführen! Und wie ich mit Entzücken feststelle: eher Augen- als Ohrenweide. Oder Konny? – Wohin denn des Wegs, so in sich gekehrt?“ (Wohin wohl, du Vollidiot. Natürlich zur Großmutter, um ihr Kuchen und Wein zu bringen, hätte ich erwidert, wenn mir auch nur annä­hernd danach gewesen wäre.)

Zwei Jungen und ein Mädchen versperrten mir kichernd den Weg. Den Kopf gesenkt und tief in meine trüben Gedanken versunken, hatte ich sie weder gehört noch kommen sehen. Ich kannte keinen von den drei Spinnern. Sie waren mir nie­mals zuvor auf Hof Lachau oder im Dorf begegnet. Als hätte ich die Frotzelei des Klugscheißers nicht mitbekommen, schlug ich einen großen Bo­gen um das Trio. Mir war weiß Gott nicht nach Streiten zumute und noch viel weniger nach Plaudern; ich hätte vor lauter Verzweiflung heulen können. Aber der Wort­führer der kleinen Clique sprang blitz­schnell vor meine Fü­ße.
„Tja, wenn du in diesem Som­mer ein bisschen Spaß haben

Die Namen sind – bis auf zwei – geändert ... im Übrigen haben die meisten der von mir geschilderten Menschen wenig Ähnlichkeit mit sich selber ... außer vielleicht Leni, Oma, Opa, die Gnädigste, Tante Agnes und meine Person: hier die Katja. Ich habe mich bemüht, den Roman anhand der neuen Rechtschreibung aufs Papier zu bringen und bitte um Nachsicht, falls es mir nicht überall gelungen sein sollte – weil die neue Rechtschreibung für meine Begriffe in mancher Hinsicht nicht nachvollziehbar und lachhaft ist. – Und danke, ihr Lieben, dass ihr mir bis hierher gefolgt seid und offenbar abwarten könnt, bis es wirklich spannend wird, Annelie.

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Kommentare

30. Jul 2017

Alles läuft hier sehr plastisch ab -
So bleibt der Leser stets auf Trab!
(Dass Putzaktionen gefährlich sind -
Weiß ja [laut Krause] jedes Kind ...)

LG Axel

30. Jul 2017

Dank, lieber Axel, dir, für deinen Kommentar;
ich mal, wo nicht gestreut, auf Glatteis hingefallen war.
Brach mir das Sprunggelenk und konnte lange, lange, nicht mehr laufen
und leider auch keine Treppen steigen -
Mein Ältester, der Chrischan, trug auf Händen mich hinauf gar in den vierten Stock,
dankbar für 's ganze Leben bin ich ihm dafür (war ja selber nur eine halbe Portion):
Das alles war für mich ein großer Schock.
Doch hab' ich Schmerzengeld nicht schlecht dafür bekommen:
den Anspruch hatte keiner mir genommen
und auch nicht nehmen können.

LG Annelie

30. Jul 2017

Ein lebendiger Text, bin gespannt darauf, wie es weiter geht. Selbst, wenn du Namen änderst und Personen erfindest, erfahre ich doch so etwas über die lebendige Annelie und ihr spannendes Leben, und das freut mich.

Lieb Grüße - Marie

30. Jul 2017

Liebe Marie, danke für deinen lieben Kommentar. Deshalb widme ich ja auch dir dieses Buch. Irgendwann werde ich es drucken (lassen), auch deshalb, weil die Illustrationen in Wahrheit viel schöner sind, als auf der kleinen Collage am Ende.

Liebe Grüße,
Annelie

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