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Mir wurde abgrundtief schwindlig von diesem Zahlengewimmel.
Ich dachte voller Panik an die ungleichmäßig beschleunigte Bewegung, die fraglos im Anmarsch war und gewiss noch wesentlich mysteriöser daherkommen würde, und rätselte fieberhaft herum, welches Genie in diesem zwar sonnenwarmen, indes keineswegs gemütlichen Raum (der während der Mathe- und Physikstunden zur reinsten Folterkammer mutierte) den delikaten Stoff begriffen haben könnte und nicht nur imstande wäre, die pikanten Aufgaben zu lösen, sondern mich obendrein auch noch abschreiben ließ. Schließlich war man ja verpflichtet, die Hausarbeit zu diesem Thema bewältigen. Aber noch ehe ich unter meinen Leidensgefährten jemanden auswählen konnte, dem ich neben dem geistigen Horizont die nötige Barmherzigkeit zutraute, trat Harry in mein Leben. Da harrte er nun sichtlich verlegen an der Seite unseres Klassenlehrers, ließ seine scheuen Blicke über unsere Köpfe hinweg ins Ungewisse schweifen und erglühte bis zu den Haarwurzeln – wie meine absolute Lieblingsblume, der feurige Klatschmohn.
Niemals zuvor sah ich einen Jungen dermaßen tief erröten. Das hat mich sofort für Harry eingenommen. Ich empfand plötzlich riesiges Mitleid mit ihm. Armer Harry! Von achtundzwanzig neugierigen Augenpaaren angestarrt zu werden, als käme man geradewegs vom Mars, stellte ich mir abgrundtief peinlich vor. Aber damit nicht genug: Dem Ahnungslosen drohte, wie übrigens allen Neuen in unserer Klasse, ein doppelt schweres Los: Nicht nur im Lehrerzimmer kursiert seit ewigen Zeiten das hartnäckige Gerücht, unsere extrem lebhafte Klasse sei nur mit größter Vorsicht zu genießen, was stark übertrieben ist.
Unser Klassenlehrer, Herr Moritz, nimmt sich dieses (Vor)Urteil sehr zu Herzen und versucht mit allen Mitteln, unser Image aufzupolieren. Stundenlanges Nachsitzen, ellenlange Strafarbeiten, sinnloses Auswendiglernen und das ständige Auf-den-Flur-Geschicke, wenn geschwatzt oder gekichert wurde, sollen uns auf das Niveau einer Schafherde trimmen. – Bisher war jede seiner Liebesmüh vergeblich!
Fatalerweise stehen wir, die Basis, vereint seit der fünften Klasse und der historischen Stunde der Einschulung, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde, in dem legendären Ruf, überaus temperamentvoll, extrem kritisch und ausgesprochen unbequem zu sein. Diese an und für sich lobenswerten Eigenschaften werden bedauerlicherweise von keinem unserer Backfisch- und Flegelbändiger gewürdigt. Ganz im Gegenteil: Die gestresste Lehrerschaft ist einmütig zu der Ansicht gelangt, dass wir in einem alarmierend krassen Gegensatz zu unserer Parallelklasse stünden, einem blassen, phantasielosen Haufen, der vor lauter frommen Lämmchen nur so zu strotzen scheint.
Besonders in den letzten Wochen, als die Ferienzeit zu unserer unendlichen Erleichterung näher und näher rückte und wir bisweilen vor lauter Vorfreude aus dem Häuschen gerieten, wurde uns das mustergültige Betragen dieser Tugendbolzen tagtäglich vor Augen gehalten.
Wir haben natürlich längst herausgefunden, dass jene hoch gepriesene Wohlerzogenheit unseren Paukern gegenüber nur vorgetäuscht ist; denn während der Pausen führen diese scheinheiligen Engel sich reichlich kess und keineswegs so gesittet auf, wie sie dauernd hingestellt werden.
In Wahrheit sind wir kein bisschen frech, höchstens aufgeweckt und putzmunter. Einige von uns geben Herrn Moritz die Schuld an unserem schlechten Leumund, aber im Grunde genommen ist unser Klassenlehrer ganz in Ordnung – wenn man mal davon absieht, dass wir nach Schulschluss die Stühle dermaßen geräuschlos auf die Tische hieven müssen, als fände im Gebäude ein Begräbnis statt. Diese Prozedur wird solange wiederholt, bis wir das gruselige Schweigen im nahe gelegenen „Schwarzen Weg“ verspüren, der – nebenbei bemerkt – seinen Namen völlig zu Recht trägt. Noch nicht mal die Vöglein trauen sich dort hinein – trotz hohem, wenn auch spärlich belaubten Baumbestand. An manchen Tagen verstreicht gar eine halbe Stunde, bis auch der letzte (mutwillige) Störenfried die Nase voll hat – wofür wir mit unmissverständlichen Blicken sorgen –, und nur noch nach Hause will. Aber all das konnte Harry damals noch gar nicht wissen.
„Den kenne ich vom Bolzplatz, kein schlechter Mittelstürmer“, tuschelte Stefan und blickte hektisch und nach Beifall heischend in alle vier Himmelsrichtungen. Er kam sich wieder mal furchtbar wichtig vor.
Nach und nach erfuhr ich, dass Harry mit seiner Mutter, dem Stiefvater und zwei Schwestern in ein Einfamilienhaus im Neubaugebiet neben dem Schlosspark gezogen war, einen Katzensprung von jener Straße entfernt, darin die Wohnung meiner Eltern liegt. Harrys Stiefvater, ein großer schlanker Mann mit graumeliertem Haar, sei Zahnarzt und neige zu außergewöhnlicher Strenge, was selbstverständlich in keinem Zusammenhang stehen muss.
Helga, die den Anschein erweckt, über jeden Bewohner unserer kleinen Stadt genaustens Bescheid zu wissen und in sämtliche Geheimnisse eingeweiht zu sein, berichtete mit nicht zu bremsender Sensationslust – sogar denen, die es gar nicht nicht hören wollten –, dass Harrys leiblicher Vater in München lebe und mit einem blutjungen Mädchen verheiratet sei.
Ich kümmerte mich wenig um das hirnrissige Getratsche. Von Anfang an fühlte ich mich zu Harry hingezogen. Am besten gefallen mir seine Augen, die oval und kaffeebraun sind, mit außergewöhnlich langen Wimpern. Harry hat ein schmales Gesicht und einen dunklen Teint. Seine mittelblonden Haare trägt er normalerweise linksgescheitelt und über den Ohren und im Nacken kurz geschnitten. Vor einigen Wochen ließ er sich einen Mecky schneiden. Selbst diese Frisur stand ihm „einsame Klasse“. Ein paar von unseren Jungs fingen natürlich sofort an zu lästern und machten dumme Sprüche, von wegen „Treppe hinuntergestürzt“ und ähnlichen Mist. Es war nicht zu überhören, dass sie abgrundtief neidisch waren.
Für mich steht seit langem fest, dass Harry mit Abstand der bestaussehendste Junge an unserer Schule ist. Zuweilen treffen sich unsere Blicke während des Unterrichts, und jedes Mal überfällt mich ein wohliges Zittern. Abends vor dem Einschlafen, wenn ich meine buchstabentrunkenen, todmüden Augen geschlossen und die Taschenlampe in ihr sicheres Versteck befördert habe, denke ich besonders intensiv an Harry, wie sehnsüchtig ich mir wünschte, dass wir miteinander gingen und ob er mich bald danach fragen würde. Seit Harry in unserer Klasse ist, freue ich mich auf jeden Schultag. Sogar die Mathe- und Physikstunden sind einigermaßen erträglich geworden. Einige meiner Schulkameradinnen haben schon einen festen Freund. Markus Behrens, mein sechzehnjähriger Cousin, ist mit Bettina befreundet, die neben mir in der zweiten Bankreihe sitzt. Tante Gertrud macht leider nicht den Eindruck, als gerate sie über diese Freundschaft vor lauter Begeisterung aus dem Häuschen. Jedes Mal, wenn sie im Vorgarten harke oder Unkraut zupfe, spaziere Bettina grußlos an ihr vorrüber, stoße wortlos die mannshohe Pforte zum Hof auf und marschiere mit der
Die Namen sind – bis auf zwei – geändert ... im Übrigen haben die meisten der von mir geschilderten Menschen wenig Ähnlichkeit mit sich selber ... außer vielleicht Leni, Oma, Opa, die Gnädigste, Tante Agnes und meine Person: hier die Katja. Ich habe mich bemüht, den Roman anhand der neuen Rechtschreibung aufs Papier zu bringen und bitte um Nachsicht, falls es mir nicht überall gelungen sein sollte – weil die neue Rechtschreibung für meine Begriffe in mancher Hinsicht nicht nachvollziehbar und lachhaft ist. – Und danke, ihr Lieben, dass ihr mir bis hierher gefolgt seid und offenbar abwarten könnt, bis es wirklich spannend wird, Annelie.
Kommentare
Alles läuft hier sehr plastisch ab -
So bleibt der Leser stets auf Trab!
(Dass Putzaktionen gefährlich sind -
Weiß ja [laut Krause] jedes Kind ...)
LG Axel
Dank, lieber Axel, dir, für deinen Kommentar;
ich mal, wo nicht gestreut, auf Glatteis hingefallen war.
Brach mir das Sprunggelenk und konnte lange, lange, nicht mehr laufen
und leider auch keine Treppen steigen -
Mein Ältester, der Chrischan, trug auf Händen mich hinauf gar in den vierten Stock,
dankbar für 's ganze Leben bin ich ihm dafür (war ja selber nur eine halbe Portion):
Das alles war für mich ein großer Schock.
Doch hab' ich Schmerzengeld nicht schlecht dafür bekommen:
den Anspruch hatte keiner mir genommen
und auch nicht nehmen können.
LG Annelie
Ein lebendiger Text, bin gespannt darauf, wie es weiter geht. Selbst, wenn du Namen änderst und Personen erfindest, erfahre ich doch so etwas über die lebendige Annelie und ihr spannendes Leben, und das freut mich.
Lieb Grüße - Marie
Liebe Marie, danke für deinen lieben Kommentar. Deshalb widme ich ja auch dir dieses Buch. Irgendwann werde ich es drucken (lassen), auch deshalb, weil die Illustrationen in Wahrheit viel schöner sind, als auf der kleinen Collage am Ende.
Liebe Grüße,
Annelie
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