Gefährlicher Sommer (Teil 2) - Page 2

Bild von Annelie Kelch
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Mir wurde abgrundtief schwindlig von diesem Zahlenge­wimmel.
Ich dachte voller Panik an die ungleich­mäßig beschleunigte Be­wegung, die fraglos im Anmarsch war und gewiss noch wesentlich mysteriöser daherkommen würde, und rätselte fieber­haft herum, wel­ches Genie in diesem zwar sonnenwarmen, indes keineswegs gemütli­chen Raum (der während der Mathe- und Physikstunden zur reinsten Folter­kammer mutierte) den delikaten Stoff begrif­fen haben könnte und nicht nur im­stande wäre, die pikanten Aufgaben zu lösen, sondern mich obendrein auch noch ab­schreiben ließ. Schließlich war man ja verpflichtet, die Hausarbeit zu diesem Thema bewälti­gen. Aber noch ehe ich unter meinen Leidensgefährten jeman­den aus­wählen konnte, dem ich neben dem geistigen Horizont die nötige Barmher­zigkeit zu­traute, trat Harry in mein Leben. Da harr­te er nun sichtlich ver­legen an der Seite unseres Klassenlehrers, ließ seine scheuen Blicke über unsere Köpfe hin­weg ins Un­gewisse schwei­fen und er­glühte bis zu den Haar­wurzeln – wie meine absolute Lieblingsblume, der feurige Klatschmohn.
Niemals zuvor sah ich einen Jungen der­maßen tief erröten. Das hat mich so­fort für Harry ein­genommen. Ich empfand plötzlich riesiges Mit­leid mit ihm. Armer Harry! Von achtundzwanzig neu­gierigen Augenpaaren angestarrt zu werden, als käme man geradewegs vom Mars, stellte ich mir abgrundtief pein­lich vor. Aber damit nicht genug: Dem Ahnungslosen drohte, wie übrigens allen Neuen in unserer Klasse, ein dop­pelt schweres Los: Nicht nur im Lehrerzimmer kursiert seit ewigen Zeiten das hartnäckige Ge­rücht, unsere extrem lebhafte Klasse sei nur mit größter Vorsicht zu genie­ßen, was stark übertrieben ist.

Unser Klassenlehrer, Herr Moritz, nimmt sich dieses (Vor)Urteil sehr zu Her­zen und versucht mit allen Mitteln, unser Image aufzupolieren. Stundenlanges Nachsitzen, ellenlange Strafarbeiten, sinnloses Auswendiglernen und das ständige Auf-den-Flur-Geschicke, wenn geschwatzt oder gekichert wurde, sollen uns auf das Niveau einer Schafherde trimmen. – Bisher war jede seiner Liebes­müh vergeblich!

Fatalerweise stehen wir, die Basis, vereint seit der fünften Klasse und der histo­rischen Stunde der Ein­schulung, die ich mein Lebtag nicht vergessen wer­de, in dem le­gendären Ruf, überaus tempe­ramentvoll, extrem kritisch und aus­gesprochen un­bequem zu sein. Diese an und für sich lobens­werten Eigenschaf­ten werden be­dauerlicherweise von keinem unse­rer Backfisch- und Flegelbän­diger gewür­digt. Ganz im Gegenteil: Die ge­stresste Lehrerschaft ist einmütig zu der An­sicht gelangt, dass wir in einem alarmierend krassen Gegen­satz zu unserer Parallelklasse stünden, einem blassen, phantasie­losen Haufen, der vor lauter frommen Lämmchen nur so zu strotzen scheint.
Besonders in den letzten Wochen, als die Ferienzeit zu unserer unendlichen Erleichterung näher und nä­her rückte und wir bisweilen vor lauter Vorfreude aus dem Häuschen gerie­ten, wurde uns das mustergültige Betragen dieser Tugend­bolzen tag­täglich vor Au­gen ge­halten.
Wir haben natürlich längst herausgefunden, dass jene hoch gepriesene Wohl­erzogenheit unseren Paukern gegenüber nur vorgetäuscht ist; denn während der Pausen führen diese scheinheiligen Engel sich reichlich kess und keines­wegs so gesittet auf, wie sie dauernd hin­gestellt werden.
In Wahrheit sind wir kein bisschen frech, höchstens aufgeweckt und putz­munter. Einige von uns geben Herrn Moritz die Schuld an unserem schlechten Leu­mund, aber im Grunde genommen ist unser Klassenlehrer ganz in Ord­nung – wenn man mal davon absieht, dass wir nach Schulschluss die Stühle derma­ßen geräuschlos auf die Tische hieven müssen, als fände im Gebäude ein Be­gräbnis statt. Diese Prozedur wird solange wiederholt, bis wir das gruseli­ge Schweigen im nahe gelegenen „Schwarzen Weg“ verspüren, der – nebenbei be­merkt – sei­nen Namen völlig zu Recht trägt. Noch nicht mal die Vöglein trau­en sich dort hinein – trotz hohem, wenn auch spärlich belaubten Baumbe­stand. An manchen Tagen verstreicht gar eine halbe Stunde, bis auch der letzte (mutwilli­ge) Störenfried die Nase voll hat – wofür wir mit unmissverständ­lichen Blicken sorgen –, und nur noch nach Hause will. Aber all das konnte Harry da­mals noch gar nicht wissen.

„Den kenne ich vom Bolz­platz, kein schlechter Mittelstürmer“, tuschelte Ste­fan und blickte hektisch und nach Beifall heischend in alle vier Himmels­richtungen. Er kam sich wieder mal furcht­bar wichtig vor.
Nach und nach er­fuhr ich, dass Harry mit seiner Mutter, dem Stiefvater und zwei Schwestern in ein Einfamilienhaus im Neu­baugebiet neben dem Schlosspark gezogen war, einen Katzensprung von jener Straße entfernt, darin die Wohnung meiner Eltern liegt. Harrys Stiefvater, ein großer schlan­ker Mann mit graume­liertem Haar, sei Zahnarzt und neige zu außerge­wöhnlicher Strenge, was selbstverständlich in keinem Zusammenhang stehen muss.
Helga, die den An­schein erweckt, über jeden Bewohner unserer kleinen Stadt genaustens Bescheid zu wissen und in sämtliche Ge­heimnisse eingeweiht zu sein, be­richtete mit nicht zu bremsender Sensationslust – sogar denen, die es gar nicht nicht hören wollten –, dass Harrys leiblicher Vater in Mün­chen lebe und mit einem blutjun­gen Mäd­chen ver­heiratet sei.

Ich kümmerte mich wenig um das hirnrissige Getratsche. Von An­fang an fühlte ich mich zu Harry hinge­zogen. Am besten gefallen mir seine Augen, die oval und kaffee­braun sind, mit außer­gewöhnlich lan­gen Wimpern. Harry hat ein schmales Gesicht und einen dunk­len Teint. Seine mittelblonden Haare trägt er normalerweise linksgeschei­telt und über den Ohren und im Nacken kurz geschnitten. Vor einigen Wochen ließ er sich einen Mecky schneiden. Selbst diese Frisur stand ihm „einsame Klasse“. Ein paar von unseren Jungs fingen natürlich sofort an zu lästern und machten dumme Sprü­che, von wegen „Treppe hinuntergestürzt“ und ähn­lichen Mist. Es war nicht zu über­hören, dass sie abgrundtief neidisch waren.
Für mich steht seit langem fest, dass Harry mit Abstand der bestaus­sehendste Junge an unserer Schule ist. Zuwei­len treffen sich unsere Blicke während des Unter­richts, und jedes Mal überfällt mich ein wohliges Zittern. Abends vor dem Ein­schlafen, wenn ich meine buchstabentrun­kenen, todmüden Augen geschlos­sen und die Taschenlampe in ihr sicheres Versteck be­fördert habe, denke ich be­sonders intensiv an Harry, wie sehn­süchtig ich mir wünschte, dass wir mit­einander gin­gen und ob er mich bald danach fragen würde. Seit Harry in unse­rer Klasse ist, freue ich mich auf jeden Schultag. Sogar die Mathe­- und Phy­sikstunden sind einigermaßen er­träglich geworden. Einige meiner Schulkamera­dinnen haben schon einen festen Freund. Markus Behrens, mein sechzehnjähri­ger Cou­sin, ist mit Bettina befreundet, die neben mir in der zweiten Bankrei­he sitzt. Tante Gertrud macht leider nicht den Eindruck, als gerate sie über die­se Freundschaft vor lauter Begeisterung aus dem Häuschen. Jedes­ Mal, wenn sie im Vorgar­ten harke oder Unkraut zupfe, spaziere Bettina gruß­los an ihr vorrüber, stoße wort­los die mannshohe Pforte zum Hof auf und mar­schiere mit der

Die Namen sind – bis auf zwei – geändert ... im Übrigen haben die meisten der von mir geschilderten Menschen wenig Ähnlichkeit mit sich selber ... außer vielleicht Leni, Oma, Opa, die Gnädigste, Tante Agnes und meine Person: hier die Katja. Ich habe mich bemüht, den Roman anhand der neuen Rechtschreibung aufs Papier zu bringen und bitte um Nachsicht, falls es mir nicht überall gelungen sein sollte – weil die neue Rechtschreibung für meine Begriffe in mancher Hinsicht nicht nachvollziehbar und lachhaft ist. – Und danke, ihr Lieben, dass ihr mir bis hierher gefolgt seid und offenbar abwarten könnt, bis es wirklich spannend wird, Annelie.

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Kommentare

30. Jul 2017

Alles läuft hier sehr plastisch ab -
So bleibt der Leser stets auf Trab!
(Dass Putzaktionen gefährlich sind -
Weiß ja [laut Krause] jedes Kind ...)

LG Axel

30. Jul 2017

Dank, lieber Axel, dir, für deinen Kommentar;
ich mal, wo nicht gestreut, auf Glatteis hingefallen war.
Brach mir das Sprunggelenk und konnte lange, lange, nicht mehr laufen
und leider auch keine Treppen steigen -
Mein Ältester, der Chrischan, trug auf Händen mich hinauf gar in den vierten Stock,
dankbar für 's ganze Leben bin ich ihm dafür (war ja selber nur eine halbe Portion):
Das alles war für mich ein großer Schock.
Doch hab' ich Schmerzengeld nicht schlecht dafür bekommen:
den Anspruch hatte keiner mir genommen
und auch nicht nehmen können.

LG Annelie

30. Jul 2017

Ein lebendiger Text, bin gespannt darauf, wie es weiter geht. Selbst, wenn du Namen änderst und Personen erfindest, erfahre ich doch so etwas über die lebendige Annelie und ihr spannendes Leben, und das freut mich.

Lieb Grüße - Marie

30. Jul 2017

Liebe Marie, danke für deinen lieben Kommentar. Deshalb widme ich ja auch dir dieses Buch. Irgendwann werde ich es drucken (lassen), auch deshalb, weil die Illustrationen in Wahrheit viel schöner sind, als auf der kleinen Collage am Ende.

Liebe Grüße,
Annelie

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