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"He, hallo … Sie!", rief ich den Mann an, der auf den Bootssteg hinausgetreten war und ungeachtet des tosenden Sees immer weiterging. "Hallo! - Vorsicht!"
Ich klappte den Kragen meines Mantels hoch und begann zu rennen. Offensichtlich träumte dieser Mensch und spazierte mit offenen Augen, ohne wahrzunehmen, wohin ihn seine Schritte brachten.
Endlich hatte ich ihn erreicht und am Arm gepackt. Gerade noch rechtzeitig! Einen Schritt weiter und er wäre ins Wasser gestürzt - vielleicht sogar ertrunken! Wer sonst hätte ihn zurückhalten sollen? Bei diesem Sturm wagte sich niemand hinaus. Im ganzen Kurpark war kein Mensch zu sehen!
Mit einem höchst erstaunten, weniger fragenden als ärgerlichem Blick musterte mich der Fremde. Er war gut einen Kopf kleiner als ich und etwas dicklich. Seiner Kleidung nach zu urteilen, mochte er Kurgast in einem der luxuriösen Hotels am Ort sein. Auch die goldene Krawattennadel sprach für meine Vermutung - so unüblich dieses Kleinod heutzutage ohnehin war.
"Was machen Sie denn? Träumen Sie? Sie wären beinahe ins Wasser gefallen!", brachte ich schwer atmend hervor. Der Lauf zum Bootssteg hatte mir bewiesen, dass ich meinen Zigarettenkonsum drosseln sollte.
"Träumen?" Der Mann schmunzelte hintergründig und warf den düster brodelnden Fluten des Sees einen abschätzenden Seitenblick zu.
"Mann, Sie wären jetzt da drinnen, wenn ich Sie nicht zurückgehalten hätte!", schrie ich ihn unbeherrscht an. "Träumen Sie denn?"
"Nicht mehr!", erklärte mir der Fremde ganz gelassen und trat einen Schritt zur Seite. "Nicht mehr, werter Herr!"
Wir standen immer noch bedrohlich nahe am Rand des Bootssteges und mir war nicht gerade wohl zumute. Der Wind blies fauchend und die Gischt der Wellenkämme berieselte uns wie aus einer defekten Brause. Immer wieder spritzte es bis auf die Planken des Steges hinauf.
"Was ist nur mit Ihnen los? Geht es Ihnen nicht gut? Brauchen Sie einen Arzt?"
"Ganz und gar nicht!", konterte er. "Mir geht es ausgezeichnet!"
"Was haben Sie sich denn dabei gedacht? - Sie spazieren hier tagträumend auf dem Steg dahin und mit dem nächsten Schritt wären Sie im Wasser gelandet! Ohne mich …"
"… ohne Sie müsste ich jetzt die Entscheidung treffen, ob ich schwimmen wollte oder nicht!", ergänzte der Mann meinen in Erregung abgebrochenen Satz. Aus Verlegenheit begann ich, mehrmals zu nicken. Die Ruhe dieses Menschen verwirrte mich, seine Worte verunsicherten mich. - Ein Lebensmüder, der keineswegs träumend dahin spaziert war …!
"Ach so …", murmelte ich schließlich, immer noch ungläubig.
"Ja, so!" Der Mann sah mich streng an und nickte kurz.
Seine Augen lagen ungewöhnlich dicht beieinander und die buschigen Brauen verliehen seinem Blick etwas Unergründliches. Die von kurzen Falten zerfurchte Stirn und die langen, tiefen Linien seitlich der Mundwinkel, die sich in kurzem Bogen leicht nach unten senkten, verrieten mir, dass dieser Mensch schon vieles durchgemacht haben musste. So sah kein glücklicher Mann aus! Vielleicht hatten ihn einige Unglücksfälle in Folge aus dem Lot geworfen. Mochte er der Chef einer bankrott-gegangenen Firma sein, gerade frisch verwitwet oder trauernder Vater. In seinem ausdrucksvollen Gesicht zeichnete sich Leid ab - Leid und Resignation. Mir schien es, als könnte ich in seinem Gesichtsausdruck lesen, was er sich vom Dasein noch erwartete: nämlich nichts!
"Kommen sie. Wir könnten zusammen einen Grog trinken und uns ein bisschen unterhalten. Das wird uns beiden gut tun!", sagte ich und wollte ihn schon am Arm nehmen und mit mir ziehen.
"Ihnen würde das vielleicht gut tun!", entgegnete er. "Mir sicherlich nicht! - Ich trinke keinen Alkohol!"
Diese lakonische Bemerkung verwirrte mich endgültig. Trieb er sich nur einen Scherz? Hatte ich mich verschätzt?
"Wir sollten miteinander reden!", beharrte ich dennoch. "Sie … Sie sind nicht glücklich!"
"Nein, ich bin nicht glücklich!", bestätigte er mich. "Ich bin sogar sehr unglücklich!"
"Und deshalb wollten Sie sich das Leben nehmen!", folgerte ich jetzt - nach einer sehr kurzen Pause, die ich nötig gehabt hatte, um die direkte Feststellung auszusprechen.
"Ganz recht mein Herr! - Und ich will es noch immer!"
Diese Antwort trieb mir den Schweiß auf die Stirne. "Ich … ich verstehe, dass Sie unglücklich sind!", stammelte ich und suchte nach Worten, die nach Möglichkeit tiefe Anteilnahme ausdrücken konnten. "Aber vielleicht wollen Sie mir sagen … warum? Mit etwas Glück werden Sie dann einsehen, dass Sie noch längst nicht aufzugeben bräuchten … und dann finden Sie wieder zurück in den geregelten Alltag!"
"Ein hübscher Gedanke!" Der Mann schmunzelte.
"Nicht wahr? - Wir könnten …"
"… aber leider ist dieser Gedanke völlig unsinnig!", fuhr er, mich unterbrechend, fort.
"Ich … aber … hören sie: Sie können doch nicht vor meinen Augen ins Wasser gehen. Das lass' ich einfach nicht zu! Abgesehen davon: Warum geben Sie sich selbst keine Chance?"
"Ich habe meine letzte Chance gestern Abend verspielt!", erklärte er.
"Dann vergessen Sie's und geben sich nochmals eine … die allerletzte, wenn's sein muss! Es ist nie zu spät!", drängte ich und zog ihn jetzt ein paar Schritte mit mir, weg von dem gefährlichen Rand des Bootssteges, mehr zur Mitte hin. Vielleicht konnte ich ihn sogar ganz auf den sicheren Spazierweg am Ufer lotsen.
Sanfte Gewalt musste ich anwenden, doch als der Mann plötzlich wie angewurzelt stehen blieb, brachte ich ihn nicht mehr weiter.
"Man kann nicht vergessen, wenn man nicht dazu veranlagt ist!", sagte er. "Vergessen! - Ist es dem Wollen unterstellt oder dem Können? - Wer vergessen kann, dem ist es gegeben, über gewisse Dinge einfach nicht mehr nachzudenken. Ich aber, ich vergesse nie etwas … nichts! Ich kann es nicht. Ich kann nicht einen Gedanken einfach einfrieren und nie wieder überdenken. Es geht nicht! Ich kann das nicht!"
"Geben Sie sich trotzdem eine neue, eine letzte Chance!", bat ich.
"Wozu?"
"Um meinetwillen! Um meinetwillen, wenn kein anderer Grund denkbar ist!"
"Um Ihretwillen?" Der Mann lachte jetzt leise.
"Um Ihrer Freunde willen - wenn Ihnen das·eher zusagt."
"Ich habe keine Freunde!", konterte er.
"Dann tun Sie's …