299. Schritt
Auf der internationalen Verblödungskonferenz habe ich einen Ehrenplatz erhalten – Jypiiiie! Dafür habe ich mein Leben lang hart gearbeitet. Der Platz befindet sich – wie man mir mitteilte – in einem Bunker mit Aussicht, damit ich die Atombombenexplosionen auch gut mit verfolgen kann, bevor ich mich auf das verstrahlte Gelände zurück bewege. Wobei die Verstrahlung aber, angesichts der allerorts ausgebrochenen Unruhen nicht weiter ins Gewicht fällt. Die durchschnittliche Lebenserwartung liege derzeit ohnehin nur noch bei ca. 19 Jahren (wenn man die noch existierenden Alten einmal nicht mit einbezieht).
Mir würde trotzdem nichts weiter groß passieren, so hat mir die amtliche Idiotität zugesichert, als ich mich bereit erklärte den inoffiziellen Beobachter-Status einzunehmen. Zumindest, solange ich nicht am Ball bleibe, habe ich eine reelle Chance zum vorläufigen Überleben. Ich könne jedoch getrost in die Zukunft schauen, denn bisher sei ich ja auch schon zu nichts zu gebrauchen gewesen.
Was in 20 Jahren geschieht ist sowieso völlig egal! Ich solle mich nur weiterhin ruhig verhalten, das sei das Wichtigste, das oberste Gebot oder einfach nur Paragraph Nr. 1! Das Treiben der Delegierten könne ich aufgrund meiner überkandidelten Fantasie ohnehin nicht verstehen, versicherte man mir durchaus glaubhaft, da sogar die zeitgleich im Plenarsaal versammelten Clowns von nichts eine Menge Ahnung hätten. Es bleibe weiterhin spannend! Das stand heute Morgen schwarz auf weiß in der Welt-Zeitung.
Ich fragte mich noch kurz, ob mich das Quasseln, der willkürlich aufgestellten Fachgremien, angesichts der nun bald erfolgenden, unbestreitbaren Tatsachen noch stören könne, dann ging es auch schon los – und der Lärm übertönte alles!
Wie auf ein Zeichen strömte der Pöbel von überall her auf die Straßen. Männlein wie Weiblein waren mit riesigen Flinten bewaffnet. Sie zogen in dichten Reihen, einander gegenüber gestellt auf, legten an und feuerten. Alle Waffen gingen erwartungsgemäß nach hinten los und der Tod schlug breite Schneisen in die Abteilungen. Befehle wurden gebrüllt. Wer am schnellsten nachladen konnte würde sich am schnellsten selber vernichtet haben. Die Leute auf „meiner“ Seite (welche sollte das sein?) hatten‘s drauf!
Sie waren wohl technisch auch eine deutliche Spur überlegen und ihr Trommelfeuer zerfetzte ihre Phalanx aufs Trefflichste. Je mehr von ihnen fielen, desto schneller rückten die anderen nach – weinend und wehklagend, denn was sollten sie ohne die „unseren“ (von denen ich keiner war) schon anfangen?! Je weiter sie vorstießen, umso mehr deckten sie ihre eigenen Defizite auf. Aber die Verlierer gebärdeten sich heldenhaft. Sie kämpften bis zum letzten Mann, zur letzten Frau gegen sich selbst und als der allerletzte von uns (wer soll das jemals gewesen sein?) versuchte er, sterbend, das Jubelgeschrei von Millionen zu imitieren, da versagte ihm die Stimme. Lächerlich!
Alles schlug als nach Plan fehl! Was sonst?! Trotzdem war mir jetzt leicht ums Herz, denn ich sah, wie sich die Erde erneuerte. Flugzeuge fielen vom Himmel, Autos blieben stehen und statt den Zügen sah ich immer wieder Karawanen halbverhungerter Esel, schwer beladen mit Alteisen, vorüberziehen. Dazwischen krachte theatralisch eine Atombombe und erleuchtete mit ihrem herrlichen Schein den Horizont.
Ab und an fuhr ein Lautsprecherwagen vorbei, der verkündete: „Es besteht kein Grund zur Besorgnis, wir liegen außerhalb jeder Gefahrenzone, Spezialkräfte haben bereits mit den Aufräumungsarbeiten begonnen – verhalten sie sich ruhig und bleiben sie in den Häusern, sollten die nicht mehr stehen, dann sind, wie in der guten alten Zeit, eben die Keller aufzusuchen!“
Die marodierenden Jugendbanden, wie auch die marodierenden Altenbanden kümmerten sich nicht darum. Was konnte jetzt noch erbeutet, vergewaltigt, umgebracht werden? Jeder Stein wurde umgedreht, um noch das passende für diverse Gelüste entdecken zu können. Ganze Arbeit war gefragt, denn bald würde man sich (die Marodierenden) gegenseitig auffressen und vergewaltigen müssen. Die Massen waren reichlich vorhanden und das Glück im Unglück so groß, daß sogar die, in letzter Zeit stark zugenommene Population der Geier zu kurz kam.
Die Spezies „Mensch“ konnte alles verwerten! Urtümliche Verhaltensweisen strebten ans Tageslicht einer ausgehenden Periode. Man „erinnerte“ sich zuerst nur bruchstückhaft an die Rituale der ausgestorben geglaubten Neandertaler, aber je mehr Wochen, Monate, Jahre verstrichen, um so mehr traten sie zutage. Sie machten „uns“ (wer immer das dann noch war) zu einer überlebensfähigen Rasse, so daß der Schöpfer seine wahre Freude an „uns“ haben musste.
„Uns“, das waren auch diesmal, wie in allen vorausgegangenen Epochen die anderen ohne mich. Warum man ausgerechnet mich am Leben ließ wurde mir, beim besten Willen, nicht klar. Da konnte ich so anstrengend nachdenken wie ich wollte, ich kam nicht drauf. Klar, zwischendurch fiel ich auf, mit meinen unerwachsenen Äußeren, mit meinen flatterhaft aufkeimenden, dummen Reden. Dann schlug man mir zwar kräftig aufs Maul, doch da man außerstande war mich auch nur eine Sekunde ernst zu nehmen, wurde ich meistens total übersehen.
Nur einmal nicht: da hatte ich mich zu weit vorgewagt und den neuen Messias, einen Gottkönig reinsten Wassers, der zugleich Befehlshaber der örtlichen Guerilla-Streitkräfte war, als Arschloch bezeichnet. Seitdem liege ich hier in der Anstalt, gefesselt, geknebelt und mit Spritzen ruhig gestellt auf einer Pritsche und träume lächelnd vor mich hin. Zwischendurch wache ich auf, schreibe in Gedanken ein verschmitztes, imaginäres Gedicht und male mir ein „wirkliches Leben“ aus. In solchen Augenblicken weiß ich, daß ich selbst und alles was ich erlebe, nur eine Illusion ist!
©Alf Glocker