Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

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64. Schritt

Alpträumchen hin, Alpträumchen her – heute durfte ich erfahren was ein echter Alptraum ist, einer mit Schmackes, einer also, von dem man, die ganze Zeit über, in der man träumt, nicht drauf kommt, daß das nicht wahr sein könnte was man träumt.

Wahr oder nicht wahr – es kommt ja auch drauf an, wie man Wahres empfindet und ob man überhaupt zwischen Wahrem und Unwahrem unterscheiden kann, ja, nicht zuletzt, ob man Wahres oder Unwahres überhaupt als Alptraum empfindet, zu empfinden bereit ist, bzw. sich eingestehen kann, das Geträumte respektive nicht geträumte Wahre sei wahr oder unwahr…

Der Alpträumer macht keine Unterschiede, er ängstigt sich nur! In Panik geraten erliegt er den Eindrücken der Nacht, außer er ist ein Tagträumer. Bei Letzterem wird es allerdings noch ganz erheblich schwieriger, zwischen Wahrem und Unwahren zweifelsfrei zu unterscheiden. Es könnte ja auch gewissermaßen „verboten“ sein, etwas als Alptraum zu apostrophieren, von dem andere behaupten, daß sie es womöglich noch schön finden, was beispielsweise mich erschreckt.

In diesem Fall empfiehlt es sich erst gar nicht, solche Zeitgenossen persönlich – nach eigenem Dafürhalten – auf ihren Geisteszustand hin zu untersuchen, respektive ihnen eine derartige Untersuchung dringend anzuempfehlen. In den meisten Fällen ist es dann viel besser höflich (oder friedliebend) zu schweigen, den Anfängen also wieder einmal nicht zu wehren, sondern schlicht das heraufdämmernde Unheil zu erdulden, als sich dem Verderben, der Verderblichkeit des Geistes und des Fleisches, übermutig, sprich „übermütig“ in den Weg zu stellen.

Wie aber wem auch sei: Schrecken ist und bleibt Schrecken, auch wenn es irgendjemandem auf der weiten Welt gelingen sollte den Tyrannosaurus Rex für ein Schoßhündchen zu halten. Ich kann das leider nicht und so bin ich in vielerlei Hinsicht sehr leicht zu erschrecken…

Als ich erwachte war es heller Tag! Relativ schnell hellwach, wie ich gewöhnlich bin, ging ich ans Morgenritual (Rasieren, Zähneputzen, Haarewaschen, Duschen), denn ich musste vormittags noch Besorgungen machen.

Gleich, nachdem ich das Haus verlassen hatte bemerkte ich, daß etwas nicht stimmte! Die Nachbarn waren anscheinend alle weg. Keiner da, den ich grüßen konnte. Ich ging ein wenig die Straße hinunter, dann beschlich mich ein klammes Gefühl. War ich allein auf der Welt? Nein, hinter mir hörte ich schlurfende Schritte – irgendwie leicht, irgendwie schwer, irgendwie fremd. Ich drehte mich um und stieß einen gellenden Schrei aus! Denn hinter mir standen – nur zwei Augen! Der Rest der mutmaßlichen Person steckte in einem schwarzen Sack (der nur die Augen – ebenfalls schwarz – frei ließ).Ich rang um Atem, wich zurück, streckte die Hände abwehrend aus, aber das Gegenüber war offensichtlich ebenfalls sehr erschrocken.

Auf einmal tummelten sich die ganze Straße entlang, dunkle Gesichter, die mich feindselig musterten. War ich nun für sie ein Ungeheuer? Es schien beinahe so. Auch mir gelang es nicht das seltsame Erlebnis irgendwo einzuordnen. Ich hatte einfach nur Angst! Was würden die dunklen Gesichter und er schwarze Sack mit mir anstellen, wenn ich nicht sofort die Gegend verließ?

Also begann ich im Traum, denn um nichts anderes als um einen Alptraum konnte es sich handeln, zu fantasieren, zu halluzinieren, zu hyperventilieren, kurz: mich zu verändern. Ich spürte wie mir Flügel wuchsen und ich mich in die Luft erhob. Dort war ich sicher, dachte ich, da ich öfter Flugträume habe.

Aber ich geriet in eine andere Dimension! Auf einmal wurde ich seltsamer Ereignisse gewahr, die nicht in meiner unmittelbaren Nähe stattfanden – oder hatten sie sich schon in meine unmittelbare Nähe vorgearbeitet? Ich sah wie kleine Kinder an den Geschlechtsteilen verletzt wurden, bei Mädchen artete es teilweise sogar in Verstümmelungen aus. Tieren wurde bei lebendigem Leibe die Kehle durchschnitten. Unter mir war alles voller Blut! Dank meines plötzlich überirdisch entwickelten Gehörs, war ich heimlich zu Gast bei unheimlichen Ritualen, wo sich Menschenwesen in eine Art Trance singen oder beten, in welcher eine Art Gehirnwäsche stattfindet.

Wer war hier hochzivilisiert? Hatte man mir das nicht beigebracht, als ich noch ganz jung war? Alles sei über Jahrhunderte, nein, über Jahrtausende mühsam erworben worden – und jetzt? Da unten sah es aus wie in der Steinzeit und mein Geist schwebte über den Wassern, den vergifteten Wassern einer urtümlichen Unvernunft. Ich schrie aus Leibeskräften, denn ich wollte nur eines: endlich aufwachen aus diesem Inferno! Aber das Inferno blieb – es verdeutlichte sich sogar noch!

Am Horizont stiegen Rauchsäulen auf. Dort entlud sich, mit ohrenbetäubendem Lärm, ein fürchterliches Gewitter. Ich flog etwas tiefer, denn ich hatte Leute entdeckt, die meinen Nachbarn ähnlich sahen. Sie waren gerade am Feiern. Dicht über ihren Tischen schwebend fuchtelte ich aufgeregt mit dem Armen und deutet auf die Vorboten des Unheils, aber sie sahen mich nicht. Mein Horizont war nicht ihr Horizont, denn sie sahen kaum über den Tellerrand hinaus! Mühsam vollzog ich ihre Gedanken nach…Sie lauteten: Wer logisch denken kann, braucht nur 1 und 1 zusammenzuzählen: schwebende Menschen gibt es nicht – folglich gibt es auch kein Unheil. Wir glauben schon genug, aber das jetzt auch noch! Nein!

Ich fliege wieder etwas höher und registriere eine noch viel größere Gefahr. Sehr weit von mir entfernt, ca. 10 bis 13 Horizonte weiter, droht das größte Unheil, das die Erde je befallen hat. Dort steht ein riesiges, riesiges Fass, dessen Dauben, wegen chronischer Überfüllung am bersten sind. In allen Gliedern spüre ich: es wird nicht mehr lange dauern bis es bricht! Dann sehe ich auch schon die ersten Flutwellen anbranden… Das ist jetzt auch für mich zu viel!

Angewidert von den Ereignissen und von mir selbst, bemerke ich, daß ich alles laufen lasse! So liege ich in meinen eigenen Fäkalien, mich windend in der panischen Angst eines Delinquenten, dem man die Todesart noch nicht verraten hat, an welcher er zugrunde gehen wird. „Aus dieser stinkenden Asche darf kein Phoenix mehr steigen“, verkündet mir einer, der auch fliegen kann – ein weißes Leuchtwesen aus dem Überraum – und ich verfalle erneut einer hypnotischen Trance, die mir Tatsachen vorspiegelt, mich regelrecht in meinen Alptraum kettet… Und der „Tanz“ beginnt von neuem.

Ich belauschte nichtöffentliche Treffen, bei denen „Klartext“ gesprochen wurde – etwas, das nicht laut gesagt werden darf, bevor nicht das ganze Land von Dämonen beherrscht wird, etwas, das sowieso keiner glauben würde, weil es nicht ins propagierte Gesellschaftsbild passt, etwas, das auch mich noch betrifft!

Und so war es dann auch. Irgendwann wurde ich entdeckt, wie ich herum schwebte um die Wahrheit zu erfahren – etwas das ich für die Wahrheit hielt, weil es die Wahrheit war, nicht etwas, was keine sein durfte, oder als solche nicht angenommen werden konnte, weil sonst die Wahrheit, die keine ist, von Leuten, die lieber keine Wahrheit als eine haben die eine ist, verschwiegen, verpönt, verboten wird. Ich zitterte!

Wie lange konnte ich die Kraft zu fliegen noch aufbringen? Wie lange würde ich mich noch über dem Niveau meiner Verfolger aufhalten können, ohne daß man mich mitten unter sie zerrte damit ich zerrissen werden konnte? Ich bot alles auf was ich hatte, aber es reichte nicht. Meine Flughöhe verringerte sich, ich kam ins Trudeln und stürzte schließlich ins Foyer eines Gerichtsgebäudes, wo ich sofort abgeführt wurde.

Ich hörte noch wie ein Schuss fiel, dann starb ich – und ich war dankbar. Denn dies war das Zeichen, das Zeichen zum Aufbruch: ein Sturm der Entrüstung brach los, brach sich Bahn und auf einmal verschwanden die schwarzen Säcke, samt den dunklen Augen aus meinem Traum! Mein Geist lebte, aber er sah anders aus als gewohnt.

Meine irren Augen glotzen mich, vom Jenseits her, aus einem Traumspiegel so intensiv an, als wollten sie mir den Weg in einen Himmel weisen, in dem ich mich so wenig auskannte wie Perseus im minoischen Labyrinth. Aus seinen Tiefen brüllte der Taurus und ich blickte mich furchtsam um – direkt ins Angesicht der Medusa, die allerdings einen roten Faden für mich bereithielt. Sie sagte, während ich mich zur Abwechslung mal in Stein verwandelte: „Mit diesem Leitfaden wirst du immer zu mir zurückfinden“.

Das konnte ich nun wirklich und wahrhaftig nicht mehr aushalten! Ich träumte nicht mehr, ich sank in eine infernalische Bewusstlosigkeit, aus der ich erst durch die Klopfzeichen aus dem komatösen Sein meiner Nachbarn, die, Lichtjahre von mir entfernt, auf einem virtuellen Planten hausten und gerade eben wieder langsam in die Wirklichkeit meiner Parallel-Realität zurückfanden, um mit mir den Tag des Jüngsten Gerichts zu begehen.

Jetzt sitze ich im völlig durchgeschwitzten Nachthemd am Fenster meines Schlafzimmers und versuche mir eines fest vorzunehmen: ich möchte nie wieder Träumen, denn daraus können bei mir nur traumatische Halluzinationen werden, andererseits möchte ich aber auch nie wieder ganz wach sein, denn ich habe Angst, gar nicht geträumt, sondern „gesehen“ zu haben. Von nun an werde ich nur noch arbeiten. Werde ich Lieben? Vielleicht, denn auch dies ist eine Abwechslung, und, richtig – kon-stru-ier-en werde ich! Ich werde mir eine Scheinwelt zurecht biegen, in der ich unbehelligt existieren kann, eine, in der ich kein Hosenscheißer mehr sein brauche, weil ich begonnen habe alles, einschließlich mich selbst, gekonnt zu ignorieren…

©Alf Glocker

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Kommentare

01. Mär 2015

Der Text - er nimmt den Leser mit!
Aber lohnt sich - Schritt für Schritt...
LG Axel

01. Mär 2015

Vielen Dank, lb. Axel.
Schwer verdaulich ist er schon...
LG Alf