Eine Weihnachtsgeschichte für Mitgefangene, Gitterstäbe und andere Gewohnheiten - Page 4

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Zugehörigkeit abverlangte, ohne Weiteres auch mal angemessen bedenkenlos mit…; in dieser Stillen Nacht ging allerdings, was das betraf, nichts mehr; nicht zu einem Zeitpunkt, an dem es ein Geist in Wirkung und Beharrlichkeit derart erbarmungslos weit nach vorne geschafft hatte, zu infizieren, es mit einem trieb, nur aufgrund einer veralteten Erlebnisgemeinschaft aus sogenannter Nächstenliebe; gefangen in einer unersättlichen Sentimentalität aus Kindheitstagen, mit dieser prickelnd vertrauten Angst durch die Bedrohung eines autoritären alten Mannes mit „Rute“ und weißem Bart.
Klar, dass Jul sich deutlich in einer seelischen Falle befand; eingefangen von einem Besinnungsvorstoß, der in der Lage war, viel, viel tiefer als sonst üblich vorzudringen und die im Bad verteilten Botschaften in geistigen Originalverpackungen direkt an Juls Ohr zu liefern. Wobei ja das Entscheidende eigentlich nur darin lag, dass sie diesmal nicht, wie sonst üblich, von dort, „nichts wie weg“, wohltuend während eines der üblichen Abtauchvorgänge aus dem anderen gleich wieder rausgespült werden konnten, sondern, dass sie diesmal unter direktem geistvollen Geleit geradezu unzensiert ihren Weg antreten mussten weit in das verfallene Gewölbe aus Gewissen hinein, das irgendwann einmal zu Juls natürlicher Ausstattung gehörte.
Doch wer erwartet, hier an dieser Stelle jetzt den passenden Moment für eine attraktiv - rührende Wandlung oder gar Läuterung eines reuigen Sünders mit Namen Jul vorher zu sehen, der beweist lediglich, wie realitätsfremd, mediengeschädigt und ignorant auch er sich bereits gerade noch moralisch über Wasser hält. Jeder kann sich doch wohl denken, in Anerkennung dessen, was die Matrix menschlicher Verfehlungen aus der eigenen Vergangenheit hergibt, dass auch Juls Gewissen bereits schon viel zu lange unterernährt, leb- und farblos vor sich hin vegetieren musste; wann hätte es sich denn auch erholen sollen vom Spießrutenlaufen durch Kindheit und Pubertät. Erschien es doch bereits schon frühzeitig immer abgestumpfter in den täglichen, triebüberwinternden Kämpfen und Feigheiten, in Enge und Labyrinth zwischen den verborgenen, rückenbrechenden, christlich abendländischen Grenzpfosten und Drohungen. Sein Gewissen konnte sich ja nicht mal mehr an eine reine kindliche Aufrichtigkeit erinnern, die – falls je vorhanden - sowieso spätestens in den 68-ern während der missglückten Verdauung der in unmittelbar zeitlicher Nachbarschaft stehenden und ständig überschwappenden kalten Suppe aus ekelhaft – brauner Vergangenheit hätte drauf gehen müssen.
Wie auch immer, um sich spätestens von da an vor möglichen Schmerzen im historisch - menschlichen Versagen zu schützen, klammerte sich Jul seitdem sowieso nur noch an das allgemein moderne Selbstverständnis, jegliche engagierte Aufmerksamkeit im Aufstieg auf der Karriere- und Verdienstleiter ein für allemal hinter sich lassen zu können, gepaart mit der Hoffnung, dass ihn so die Geister der Verantwortung und der Besinnung in Zukunft ein für alle Mal unbehelligt ließen. Umso unfassbarer für ihn daher, dass nun doch einer von ihnen plötzlich vor ihm stand, mit dieser unmittelbaren Forderung an sein Gewissen, ausgerechnet unter dem Gewicht einer mittlerweile dermaßen schwergewordenen Wohlstandsdecke eine neue Lebendigkeit hinzubekommen und den Kontakt wieder aufzunehmen. Wen wundert es da, dass sich Juls Schwächezustand im weiteren Verlauf nur noch weiter verschlechterte und sein Gleichgewicht noch mehr ins Wanken geriet?

Noch wollte Jul aber nicht aufgeben; noch wollte er sich nicht geschlagen geben: Annehmlichkeit, Stolz und Würde über all’ die Jahre; all’ das konnte er nicht einfach kampflos den in die Ecke treibenden Vorhaltungen aus Schuldgefühl und gierigen Gewissensbissen überlassen? Verzweifelt versuchte er daher seine menschheitsfähigste Waffe nachzuladen bzw. aufzurüsten: VERDRÄNGUNG!
Ist es doch das Zauberwort, dessen Zauber, wie wir wissen, jeglichen verbindenden Worten nach und nach die Bedeutung raubt, damit wir ungestört weiter gemeinsam viel zu eng und zu lang in Zwei- oder Mehrsamkeit baden können, obwohl uns das trüb gewordene Wasser bereits bis zum Hals steht; auch, wenn wir ab und zu zwar wohl mal gezwungen sind hilflos zu grübeln, zuweilen sogar Abstand halten; dann aber meistens doch nur deshalb, um uns letztendlich ungestört immer weiter mit uns abzulenken zu können…
Der Geist wusste allerdings nur zu gut, wie robust die Widerstände im Menschen seiner Selbsterkenntnis trotzen. Er benötigte daher dringend Verstärkung durch einen weiteren Geist ( und auch wer Dickens nicht kennt, kann den Namen an zwei Fingern ablesen: Genau! Geist Nr.2 . Auch er ohne ein Wort auskommend, knüpfte derweil lapidar an die meist viel zu wenig in Anspruch genommene und auch heutzutage noch immer sehr einseitig interpretierte Erkenntnis an, die er sichtbar im Badezimmer in einer Art Filmvorführung kurz und knapp veranschaulichte, nämlich, dass das Leben kurz und kostbar ist. Eindrucksvoll richtete er dabei standesgemäß einen seiner sehr bedrohlich todblassen Zeigefinger auf bildreiche Szenen mit den ätzenden Vorhersehbarkeiten und routinemäßigen Badevorgängen aus Juls Alltag; verwies auf deren endlose Wiederholungen, in denen Lebendigkeit und Liebe bereits gefährlich ausgetrocknet wirkten und deren Erlebnisse nun deutlich ausgeblichen zum völligen Austrocknen an der kurzen Leine hingen…

Jul versuchte weiter hartnäckig und so gut es ging, sich zu wehren und Geist Nr.2 musste tatsächlich zwischenzeitlich zumindest eine kurze Erleichterung lang hinnehmen, sich Juls zuverlässig bereit stehenden Mittelfinger gefallen zu lassen: Dieses symbolträchtige Zeichen, das neben dem Zeichen des Kreuzes nicht nur in Juls Leben so manches Mal Pate steht, um möglichst ohne Argumente auszukommen und sich dennoch im sicheren Hafen normal geltender Anerkennung auf gängigen Augenhöhen zu bewegen. In dieser Art von Gegenwehr konnte sich Jul zwar selten länger, als für kurze Zeit über Wasser halten; eine Zeitspanne, die zumeist jedoch ausreichte, sich nicht den Boden unter seiner Wanne wegziehen zu lassen.
Diesmal allerdings, in der Unausweichlichkeit einer derart geballten geistigen Gegenwart, in einem zunehmend emotional auslaugenden, immer rascher werdenden Gezeitenwechsel der Wasserspiegel seines Badewassers und im Schwinden seiner sonst so erfolgreichen seelischen Anspruchslosigkeit; Jul wurde immer dünnhäutiger und befand sich auf dem besten Wege, sich in den weihnachtlichen Tiefen seiner sonst so beständigen Oberflächlichkeit zu ver-lieren und letzte vertraute Sicherheiten aufzugeben; was wohl auch der Vorstellung recht nahe kam, tragisch im eigenen Badewasser zu ertrinken. Tja, insofern war das, was dann geschah, ja auch nur noch ein Leichtes, den Akt passend an dieser Stelle - dramaturgisch betrachtet – einem folgerichtigen Ende zuzuführen. Allerdings bedurfte es noch zusätzlich der Anleitung und den Auftritt eines weiteren ganz

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