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erklären; ebenso wenig, wie die Tatsache, dass er sich in überraschender Weise mit einem Mal sogar stark genug fühlte, über Nichtigem und Kleinlichem stehen zu können. Gleichzeitig fühlte er sich überwältigt in einer seit Ewigkeiten nicht mehr dagewesenen Sehnsucht und dem unstillbaren Hunger nach einer reinen, freien Seele.
Derart intensiv übermannte unseren Jul dieses geistige Abenteuer, dass er sogar länger als erwartet in diesem sehr Kraft zehrenden Einfluss verblieb. Hierbei spielte sicherlich auch die Leichtigkeit eine Rolle, die ihn mit einem Mal schallend auflachen ließ, lachend über sich selbst, lachend darüber, wie er sich so einmalig putzig und selbstzufrieden wiederfand, in seinem Badezimmer, in seinem Körper, dessen Verfall altersbedingt den verzweifelten Verjüngungsversuchen zum Trotz, selbst in den wechselnden Farben eines neuen Spiegels, nach außen hin nicht im Geringsten mehr die Hoffnung auf irgendwelche Wirksamkeit seiner ausladenden Identität rechtfertigte; auch nicht in den verkrampften subtilen bis peinlich jugendlichen Anbiederungsversuchen.
Noch herzhafter fiel sein Erstaunen darüber aus, wie es ihm bisher derart selbstzufrieden gelingen konnte, unbemerkt an geistig alterswürdigen Vorzügen und Weisheiten vorbei zu leben und stattdessen in allgemein wohlständischer Manier nur noch abgedroschen, fantasielos und für alle vorhersehbar vor sich hin zu sinnieren. Mit dem aufdeckenden Lachen über dieses Missverhältnis seines Ehrgeizes an völlig übertrieben gehegten Schlüsselreizen aus Tradition, Eitelkeit und Selbstbetrug einerseits und einer plötzlich hell aufscheinenden Unabhängigkeit andererseits, gelang Jul in einem einzigartigen grenzenlos geistreichen Aufstieg und Ausblick, jegliche bisherige, von ihm für so bedeutsam gehaltenen Wirklichkeit im Nu zusammenschrumpfen zu lassen; erst dies öffnete Jul den maßgeblichen Raum für ein Erleben, die bedeutsame Befreiung gleichermaßen wesentlich tiefer als sonst nach innen zu tragen. Erst dort fühlte er sich um so mehr intim bereichert, als die dadurch hervorgerufene außergewöhnlich berührende Nähe allein mit sich selbst, ihn diesmal nicht mehr, wie sonst, bedrohte oder ihn ausschloss, sondern stattdessen seinem Erleben, wie selten zuvor, die Unabhängigkeit verlieh, die ihn neugierig zu unbekannten, ungewohnten Einsichten vorantrieb.
So geriet er in schwindelerregende Höhen, auf deren Gipfeln eigentlich nur noch ein kleiner Schritt darauf wartete, ihn in den Zustand völliger, geistig selbstbewusster Freiheit zu führen; ihn hinter das Tor zu leiten, hinter dem Einblicke und Ahnungen mit einer für ihn völlig neuen Weltsicht aufwarteten... ohne noch Recht haben zu müssen. In ihr konnte Jul weiter sehen, weiter hören und weiter spüren, ja, sogar sehr viel weiter denken; erst in ihr empfand und fühlte er die wahre Bedeutung im Wesen seiner Wandlung. Erst in ihr entdeckte er einen wahren Baumeister aus Unendlichkeit, der hinter Juls Schaffen in Begleitung seiner sonst so panischen Angst vor Vergänglichkeit und Tod nun deren Notwendigkeit zur Erneuerung und Erweiterung in den Mittelpunkt hob; der geistig - energetische Räume so lange in materielle Mutationen und künstlerische Formen wandelte, sie hin und her leiden ließ, bis sie sich zur rechten Zeit wesentlich tieferen Wahrheiten widmen konnten.
Und siehe da: Trotz der Begrenztheit eines Badezimmers, in der Enge seiner Badewanne schwebte Jul kurzzeitig unglaublichen Wellen aus Bewusst-Sein einer nie endenden Transformation hinterher, fortfahrend aus den Widersprüchen einer unsichtbaren Evolution, im Fließen einer schöpferischen Freiheit und Macht, wie sie bereits so lange darauf wartete, auch der Gesamtseele Mensch vielleicht doch noch das Wunderbare oberhalb seiner Triebe und seiner völlig überschätzten Intelligenzgebärden zuteil werden zu lassen, mit all‘ dem, was Mensch - Sein immer auch noch bedeuten könnte: Einsicht und Wandlung, die diesmal nun für Jul – zumindest für diesen einen Moment - die banalen Reichweiten seiner vorstellbaren Wirklichkeit weit überstiegen und an diesem Tag zum Greifen derart nah an ihn heran rückten. Und für diesen Moment, für diesen einen Moment gelang Jul tatsächlich mal eine nicht bloß einfache, nein, diesmal schaffte er eine sehr, sehr seltene, tiefe, wenn auch weniger sichtbare komplexe Erhöhung seiner „aufstrebenden“ Männlichkeit.
Aber schnell wurde natürlich klar; auf Dauer konnte Jul diesen geistig - seelischen Aggregatzustand auf allerhöchstem Niveau nicht durchhalten, geschweige denn wiederholen; viel zu rasch wurde der Arme von den im Bad für kurze Zeit verstummten üblichen Alltagspaniken wieder eingeholt. Wollten sie sich doch fortan nicht länger bevormunden lassen und bestanden bereits wieder auf den gewohnten Zugriff ihrer vertrauten Alltagslogik in Juls Grenzen von vor 1945 bis heute, den Grenzen klar vorsortierter Wahrnehmungen und Misstrauensanträge. In ihren Errungenschaften zwischen Angst und Gier fanden sie nun mal alles, was sie brauchten, zwischen Größenwahn und Selbstzweifel trauten sie sich wieder zurück in die seit je mit akribischer Kontrolle versehenen Räume und der dazu gehörigen kapitalen und Zins trächtigen Bereiche; bereit, sofort wieder an den geistfreien Rädern zu drehen, sobald eine Bedrohung der rein „Überlebenskampfgewohnten“ Rudelidentität und der Illusion des ewigen „Weiter-so“ zu befürchten war. Reflexartig schützend legten sich daher auch bereits auf dem „Heimweg“ seines geistigen Ausflugs Juls Hände nach und nach wieder voller Furcht und schützend vor die Überschaubarkeit seiner sorgsam gehegten, recht gut „durchgeschaukelten Eier“.
Somit schien alles wieder auf dem Punkt, wie er seit jeher den Ausgangspunkt ewiger zermürbender Schwankungen im Menschen abbildet, oszillierend zwischen den Teilen aus tierischer und geistiger Verwandtschaft; zwischen Panik und Übermut; zwischen Leben und Tod, Paradies oder doch eher Hölle, Gut und Böse, richtig und falsch, Liebe und Hass: Aufführungen vor und hinter einem Vorhang aus heller und dunkler Energie bzw. Materie; all’ das offenbarte sich ausgerechnet dem armen Jul derart konzentriert an diesem einen von 365 Tagen, an dem solche Dualitäten fühlbar scharfkantig wie Schwerter aneinander prallten; eine moralische Druckwelle, einen Tsunami auslösend, wie er sich an einem gewöhnlicheren Tag zuvor nie hatte effektvoll genug ausbreiten können, um einen dauerhaften Zugriff auf „infektiöse“ geistige Erhabenheit und Verantwortung zu ermöglichen. All’ die ewigen Versuche vorher fielen da trotz aller Hartnäckigkeit viel zu schwach und in all’ der unfassbaren Tragik noch immer viel zu wenig schmerzhaft aus, um endlich einmal aus dem ewigen Urteil der Geschichte „Schuldig“ ein für alle Mal heraus zu kommen. So war auch Jul eben nur Mensch, konnte nun mal nicht – anders, als ein Geist - aus seiner Haut. Gefangen in seinem Zwiespalt aus etwas Weisheit und dem Rest seiner groben Zerissenheit fürchtete er nun mal seit je in erster