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besonderen geistigen Oberhauptes, der sich dem Namen nach aller guten Dinge widmete und sich daher „GEIST NR. DREI“ nannte. Dieser wusste nur zu gut, worauf es ankam, eine finale, filmreife Umerziehung hinzubekommen: dort anzusetzen, wo jeder von uns am verwundbarsten erscheint, in Stolz und Würde, im Glauben an das einzigartige „ICH“.
Ebenfalls „ohne Worte“ begann der daher sofort damit, Jul in eine perfekt inszenierte Nahtoderfahrung zu schicken, ihm dort lauter unangenehme, finstere, aber auch bekannte und vertraute Gesich-ter vorzustellen. Es brauchte lediglich eines kleinen Zaubers, sie nun deutlich sichtbar werden zu lassen, so, wie sie eifrig hinter Juls Ich an den unterschiedlichsten Fäden zogen, seit je ihren Schabernack mit ihm trieben; und Jul dämmerte nach und nach in schockierender Weise, wie sie in subtilster Form bereits seit seiner Geburt mehr oder weniger unbemerkt nicht nur in politischer Hinsicht unter seiner Haut Platz genommen hatten, täglich mehr oder weniger ein- und ausgingen, sich heimlich vorbei drückten an der törichsten von Juls naiven Hoffnungen; „ich bin einfach nur ich“ ...und er erhielt so den leidvollen Einblick darüber, wie sehr er seitdem mit ihnen zwangsläufig immer mehr in die Breite gegangen war, ohne noch zu wachsen…
Anfangs war es für Jul schwer und ungewohnt, sie alle auszumachen, sie wiederzuerkennen, die ungebetenen, aber auch die mittlerweile träge und selbstgefällig gewordenen „Gäste“ zwischen den gut genährten Fettwülsten seiner blassen Haut... Schwerer fiel es ihm, sie in ihren Abdrücken auf seiner Seele in einer Art Spurenlese genauer zu identifizieren und im einzelnen unter die Lupe zu nehmen. Und er war nicht schlecht erstaunt darüber, wie viele sich in den mittlerweile kaum noch einsehbaren Versenkungen aufhielten, nur, um zum richtigen Zeitpunkt, hinter ihrer Maske mit überheblichen, selbstgefälligen, teils ausgelatschten, teils messianisch oder rückwärts gewandten Botschaften sein Innenleben und sein Selbstbewusstsein zu kontrollieren. Hierzu gehörte vor allem auch ihr Bestreben, in den vielfältigen Momenten von Juls Einsamkeiten immer noch irgendwelche vermeintlich wichtige Verbindlichkeiten, Sicherheiten und Reize, seien sie auch nur käuflich, anbieten zu können. Schließlich kam es ihm vor, als blicke er in die verzerrten Angesichter einer Ahnenreihe kubistisch angeordneter Fahndungsbilder, deren Profile in immer deutlicher werdenden Zügen gegenwärtigen und vergangenen Wegbegleitern ähnelten. Am wenigsten noch war er erstaunt darüber, um wie viel deutlicher als bisher angenommen er sich in Übereinstimmungen wiederfand innerhalb sehr markanter und zum Teil abgründiger Zeichnungen im Antlitz seines Vaters oder seiner Mutter.
Juls „Fall“ sollte sich noch weiter fortsetzen… Um die Inhalte innerhalb all’ der personifizierten geistigen Gitterstäbe in deren algorithmisch – pandemischer Einfältigkeit und Wirkung noch eindrucksvoller zu veranschaulichen, zog Geist Nr. DREI gut hörbar zusätzlich Stimmen aus einigen ihrer gängigen Infektionshotspots heraus. Stimmen, aus denen möglichst unsichtbare, sprachliche Vorurteile anfangs freundlich, dann mehr und mehr ihrem Dogma verpflichtet, ihre zumeist ahnungslose Schuld verließen. Beiträge, in deren anberaumter Gegenwart zum Ortstermin Jul sich jetzt qualvoll im notwendigen Abstand zu wahllosen Hörbeispielen als eine Art Zeuge wiederfand; in schmerzender Distanz zu fremden, aber durchaus auch eigenen Nerv tötenden Inhalten, fantasielosen Kommentaren und phrasenhaften, stereotypen „Wortimpfungen“. Rasch sah er sich schallträchtig umgeben von deren allzu betonten Glaubenssätzen, so, wie sie unaufhörlich an der „Bildung“ seiner Lebenskonzepte nach immer gleichem Herdenmuster gewebt hatten; Botschaften, von denen Jul bisher immer überzeugt war, dass sie wie selbstverständlich und mediengerecht zu seiner kleinen „Welt“ gehörten und - selten genug - auch mal nicht. Äußerungen, wie sie tagtäglich wie fast beiläufig beständig um ihn herum über den „Ladentisch“ gingen, die nun aber in schmerzlicher Distanz und im Filter höherer Einsicht sich als gefährliche Einflüsterungen herausstellten, die offenbar seit seiner Geburt versucht hatten, Juls Kopf eigentlich nur unter Wasser zu drücken oder ihn gerade noch vor dem Ertrinken zu retten. Nun vernahm er wie aus der Ferne einige ihrer gängigsten Inhalte…
“sei einfach besser als andere…, die Welt ist, was sie ist und wie sie ist, eingeteilt in Gewinner und Verlierer, finde dich ab, falsch und richtig ... was gibt es zu zweifeln; entscheide dich einfach nur für richtig oder falsch, du oder der andere, arm oder reich, und denke daran... du bist keine fünfzehn mehr...“
Kostproben, wie sie laut und lauter in ihrer gebetsmühlenartigen Beschallung schon immer jeglichen höheren Geist auf menschlichem Verarbeitungsniveau zu materialisieren und zu missbrauchen suchten; ebenso, wie sie ästhetische Ansprüche als zumeist nicht essbar zurückwiesen und nun im Abstand näherer Betrachtung sich als diejenigen von Juls ängstlichsten, lautstärksten, langweiligsten und einfältigsten Überzeugungen herausstellten; so, wie sie nun mal durch die geistige Versorgung besorgter Eltern, fantasieloser Freunde und Feinde, systemtemperierter Lehrer, putziger Tanten, geltungssüchtiger Onkel oder welcher Beamten würdigen Bezugsgruppe bzw. juristischen Person auch immer zugeordnet, an Juls „werdenden Mann“ gebracht worden waren.
Sie alle hatten offenbar, ebenso wie er auch, in der kleinen kulturellen Nische aus Fremdbestimmung ihren eigenen Worten geglaubt; hatten fleißig gebastelt an „Schönheit“ und „Enge“ ihres Tagesbuchs, an den Laufstegen eines Lebensmanifests, so, wie es nach und nach in tragischer Weise eben auch Juls empfindsames individuelles schöpferisches Selbst-Bewusst-Sein und kreatives Repertoire aus Kindheitstagen einfing und es bereits so schrecklich früh in Ignoranz und Starrheit gewandelt hatte, um es nach und nach auf buntem Badeschaumniveau überflüssig werden zu lassen.
„Vergeude keine Zeit ...sei Realist...halte dich nicht auf in nutzlosen Träumen und mit nichts nutzen Träumern…“ eine Unzahl von Einflüsterungen, wie sie eindringlicher nicht hätten sein können; Glücksrezepte, um auf zeitgemäße Wirklichkeiten einzuschwören…Zusätzlich füllte sich das Bad aber noch aus anderer „Heilsquelle“ mit einer ebenfalls vertrauten und nicht weniger aufdringlichen Stimme. Diese kam aus einer Richtung, aus der die für die Zeit typischen, entleerten Lebensräume mit Heilsbotschaften wieder bewohnbar gemacht werden sollen. Diese meldete sich zumeist in den Erlebnisstaus einer übermäßigen Gier nach den Highlights materieller Ich-bedürftiger Übertreibungen . Eine sanfte Stimme, die mit verführerischem Anspruch regelmäßig mal „vorbeischaute“, um sich in zumeist kostspieligen Fortbildungen um ein weiter entwickeltes therapeutisches und bei religiösen Defiziten auch esoterisches Ich zu kümmern.
„Wir wollen doch wohl nicht verzweifeln….“ flüsterte sie sich ausgesprochen betont mit weiser Zurückhaltung in Juls Ohr und in sein Bewusstsein hinein...„schau, suche die Stille einfach nur dort, wo du glaubst, deine Verzweiflung spüren zu müssen; finde dich ab, sei nur du selbst, alles ist doch irgendwie ok in der Weite des Universums, egal, ob Gott, ob Geist; es ist doch so einfach… schau in die Unendlichkeit... je weiter, desto weniger spielen deine Probleme und die deiner Mitmenschen noch eine Rolle...schaffe dir einfach einen Überblick, in dem es dir gut geht, verzeih' deinen Eltern... lass dich fallen und denke immer daran, wie viele Hände dich auf den Arm nehmen möchten! Und Du musst nichts…ja, ich weiß, Schnäppchen aus Kinderhänden, hungrig sterbende Kinderbäuche für Öl, Krieg, Menschen in „wütenden“ Flüchtlingslagern, Heuchelei, Dummheit, Zerstörung, Feigheit, alles gut und schön, du Lieber, doch schau, jeder sollte doch die Verantwortung für sich selbst...
Jul sah sich auch sogleich wieder verführt und entlastet, sah sich im Einklang solcher Worte im Geiste wohltuend bereit, sich auszustrecken mit schweren Armen, einer tiefen, ruhiggestellten Bauchbeatmung und dem risikolosen, betäubungsfähigen Mantra:„Alles ist gut, so, wie es ist...fang nicht wieder bei Null an, wo bereits schon alles Eins ist, spüre einfach nur die wohlige Wärme... in deiner Wanne.
Doch immer mehr Stimmen aus Gegenwart und Vergangenheit mischten sich zusehends in Juls Aufmerksamkeit, bis er letztendlich nur noch verzweifelt die Handflächen fest gegen seine Ohren pressen konnte. Das Gedränge all' der unsichtbaren Seelen in seiner Wanne war kaum mehr auszuhalten. Eine Erkenntnis jedoch wurde in Jul immer lauter und unerträglicher: Jeder wusste seit langem, wer er war, während er nach und nach jeden Kontakt zu sich selbst abgebrochen hatte. So, wie er auch, wollten alle eigentlich einfach nur mitreden und profitieren von irgendeinem Aufstand und irgendeiner Beachtung. Allerdings begaben sie sich die meisten zumeist in schwereren Momenten, sofort und gefahrlos wieder in die Friedfertigkeit ihres Verstecks, während sich andere permanent von der Angst bedroht fühlten, Einfluss zu verlieren.
Die Wanne wirkte nur noch weiß und kalt…So mühte sich also seit ewiger Zeit ununterbrochener Ansteckung eine Art Lobbyismus ab, versprach immer wieder kurzfristiges Erlebnis-Wachstum in den ewig altbekannten Bestechungsversuchen und drohte fast beiläufig – was fast noch schrecklicher wiegt – ständig mit Liebesentzug, Leid bzw. Strafen.
Mit der allerhöchsten Anforderung an Entschlossenheit und einem Mut der Verzweiflung wagte sich Jul tatsächlich zittrig über seinen Wannenrand und hatte große Mühe nicht auszurutschen. Da drang plötzlich vom Erdgeschoss her etwas ungemein Vertrautes an sein Ohr. In all‘ dem erlittenen Stimmengewirr überragte eine besonders lieblich - raue Stimme das ganze Geschehen; eine Stimme, die mühelos vom Flur bis ins obere Bad reichte und... die seiner Frau Marie gehörte. In letzter Rettung war sie es oder besser gesagt ihre Stimme, der es - nichts ahnend - gelang, Jul nicht nur mit größtmöglicher Erleichterung wieder in die Normalität seines winzigen Felsens oberhalb seiner mittlerweile eiskalt gewordene Brandung zurückzubringen, nein, zusätzlich fegte sie auch noch in all‘ ihrer tonalen, praktischen Ungeduld und Bestimmtheit jeglichen Spuk im Nu aus dem Badezimmer und aus dem Haus:
„Schatz, mach’ dich bitte fertig, die Gäste kommen gleich!“