Eine Weihnachtsgeschichte für Mitgefangene, Gitterstäbe und andere Gewohnheiten - Page 3

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Linie nichts mehr als die Begrenzung seiner Haltbarkeit und den Verlust seiner Gewohnheit.
Allerdings klaffte fortan in Jul - einer Wunde gleich - ein Zwiespalt bedrohlich weit auseinander. Wie in eine Art Hohlraum füllte sich das entstandene seelische Vakuum beim Rückzug aus selbstbewusster geistiger Energie und Erhabenheit wieder mit diesem alten Gefühl aus kindlichem Versagen. In deren verborgenen permanenten Schuldgefühlen spürte Jul vor allem deren erwachsen gewordene Ausläufer, in deren Wut seine moralische Begrenztheit ihn höchstens in das stets zu verbergende Selbstbild all’ seiner vermeintlichen Defizite trieb. Und da Jul seitdem in Übermacht seiner moralischen Unempfindlichkeit lediglich aktiv zu schweigen vermochte, blieb seiner Selbstrettung nur noch übrig, sich in eine der typischen hysterisch – verkrampften, militärischen Haltungen zu begeben. Eine solche stellt sich bei den meisten Menschen ja immer dann ein, wenn der Schutz eines gut antrainierten, gewohnt-souveränen, gönnerhaften Selbstverständnisses wegen Scheinheiligkeit und Brüchigkeit trotz ehrenvoller Beteuerungen nicht mehr die eindrucksvolle Geste nach außen hergibt. Doch auch dort sollten diesmal Jul’s spärliche Worte versagen, da sie nur noch unbeholfen stammelten: "Was zum Teufel…“
Er verstummte daher sogleich wieder, wollte er – obwohl nicht mal ein "Zuhörer" aus menschlichem Urteilsvermögen zugegen war – sich nicht auch noch zusätzlich und auf keinen Fall in der Einsamkeit eines peinlichen Selbstgesprächs verlieren. Und was soll man sagen? Von diesem Moment an legte Juls Zustand – angezählt im dramatischen Auf und Ab seiner Gefühle – endgültig einen eindrucksvollen Abwärtstrend hin. Dieser sollte ihn von nun an nicht mehr loslassen! Zusehens wurde er Zeuge einer unerbittlichen Zersetzung seines beim Umschiffen moralischer Klippen doch so mühsam gezähmten Selbstbewusstseins. Den roten Faden zahllos eingeübter Rechtfertigungen immer weniger unter Kontrolle, riss dieser jetzt deutlicher denn je aus seiner Verankerung. Im Prozess geistiger Offenbarungen fehlte es ihm zunehmend an Reißfestigkeit unter der Last der Anforderungen an Nachhaltigkeit, Nächstenliebe und Verantwortung gegenüber eines seit Jahrtausenden in Religion und Philosophie unermüdlich mahnenden und ständig ignorierten höheren Geistes. Der Satz, „Was kann ich als Einzelner schon tun?“, wie auch die vielen darauf aufbauenden Vergehen ergriffen daraufhin in zunehmendem Schwächegefühl die Gelegenheit, suchten wie im Jagdfieber nach Geständnissen hinter einer langen Tradition an Unsichtbarkeit, Achtlosigkeit und Abgrund.
Erleichtert in ihren Offenbarungen verließen sie die Schatten eines engen Selbstverständnisses, wühlten sich heraus aus den Gittern einer völlig verklärten Selbstwahrnehmung und einer rücksichtslos - unbekümmerten Lebensführung; einfach nur, um endlich einmal ans Licht zu dürfen. Dies alles geschah bereits, während Jul in gewohnter Starrheit noch immer krampfhaft an der Überzeugung festhielt, über ein super attraktives Selbstbewusstsein und Selbstverständnis zu verfügen, zeitgemäß in den angesagten Top Wiedererkennungswerten - cool und routiniert - inzwischen super integriert in eine Wertegemeinschaft der "Ich glaub', ich hab noch gar nicht genug getrunken Generation", gefällig, gesundheitsbewusst, modern, sicher wohl auch mal draufgängerisch in der einen oder anderen Geste, ab und zu mal mit einem Glas Wein oder gar einem Joint in der Hand, aber unterm Strich doch ein Selbstbewusstsein, das mittlerweile eindrucksvoll in den bekannten, sicheren Ecken der Gesellschaft lässig, locker und auffällig durchaus einen Mann stehen lassen konnte, ohne selbst wirklich noch anwesend sein zu müssen.

Wie in einer Art Halbzeit fragt sich da möglicherweise der Leser an dieser Stelle der Erzählung verunsichert oder gar kritischer als sonst, fragt sich aber vielleicht auch der eine oder andere außerhalb derartiger Begebenheiten, inwieweit es glaubhaft und realistisch erscheint, dass ein stattlich-solides Selbstbewusstsein von einem Moment auf den anderen mitten aus einer soliden Kursentwicklung heraus tatsächlich zusammenschmelzen kann in den epidemischen Flammen eines um Lebendigkeit, Einsicht und höhere Werte ringenden Geistes. So mag das Geschehen für den einen oder anderen unglaubwürdig erscheinen, da der Geist diesmal nicht in den dafür vorgesehenen kulturellen Räumen Beachtung suchte, dort, wo von vorn herein sowieso wenig spürbare, bedrohliche Konsequenzen vorgesehen sind, also im angemessenen intellektuell – literarisch oder politisch gesellschaftsfähigen und vor allem unterhaltsamen Rahmen.
Dass dieser stattdessen überfallartig und übergriffig in Schutzraum und Privatssphäre Juls eigener Wanne ermittelte und ausgerechnet dort Rechenschaft verlangte, mag selbigen Lesern daher aufgrund der Erfahrungen eigener Badevorgänge höchst unwahrscheinlich vorkommen; umso mehr, wenn so ein Geist dann auch noch auf statistisch absolut nicht nachweisbare unendliche Weiten eines weiseren Himmels verweist und so weit geht, komplett einen zugegebenermaßen vielleicht nicht gerade wirksamen, aber dennoch allgemein anerkannten, moralisch - überlieferten Horizont einfach mal eben hinterfragen zu wollen. Andererseits sei aber nochmals darauf verwiesen: Wenn nicht Weihnachten, wann sonst? Wie schon erwähnt, bildet nun mal seit jeher nur noch Weihnachten eine der letzten Bastionen, in der überhaupt noch dieses seltene Erlebnis- und Berührungsbedürfnis nach kollektiver Besinnung, Besserung und seelischer Reifung besteht. Weiß doch jeder, welch’ ungewöhnliche Dinge an diesem Tag schon passiert sein sollen.
Aber, wie auch immer, unbestritten mag bleiben, dass es sich hier um einen durchaus schwer zu glaubenden Eingriff in eine der modernsten Lebenseinstellungen und Räume handelt, die der Mensch sich nach seiner Jahrtausenden alten Geschichte zumindest in technischer Hinsicht blutig und mühsam erkämpft hat; Räume – koste es auch, wen oder was es wolle - in denen nun mal Jul und einige Altersgenossen der westlichen Welt es mittlerweile friedlich und brav verstehen - für jeden ersichtlich - stolz und altersgerecht, mit oder ohne Bedenken, die letzten Ressourcen zu verbrauchen, zuweilen sogar ohne SUV; auch wenn sie wohl immer mal wieder auftauchen, die Zweifel an der Überlebensfähigkeit dieser überwiegend simplen Glücksvorstellung, im Streben nach reich vorhandenen Ausstattungen luxuriöser, artgerechter Betäubung und abgesicherter Abenteuer, um als Wiederholung von Wiederholung zu Wiederholung dahin zu eilen und zu altern!
Jeder mag daher an seinen Zweifel festhalten, möge aber dennoch vielleicht der Geschichte weiter folgen und sei es auch nur, um weitere Ungereimtheiten „erbarmungslos“ aufzudecken...

Allmählich setzte die Dämmerung ein; in wachsender Anspannung und Atmosphäre stand immer mehr die Wirksamkeit der warmen, feierlich aufgestellten Kerzen auf dem Spiel. Mehr und mehr schwand Juls letzte Hoffnung auf ein ruhig gewohntes, lächelndes Dahinplätschern innerhalb seiner Badewanne. Apropos bedeutete Jul seit jeher sein eigenes Lachen immer sehr viel. So war er häufig ein gern gesehener Gast, lachte er doch vorzugsweise mit anderen, vorzüglich gerne über andere, lachte, wenn es seine

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