Es fing damit an, dass ich meine Lady beim Beulen-Doktor hatte. Meine Lady ist mein rotes Gefährt und Beulen-Doktor deshalb, weil nach der Doppeldelle, die ich mir selber vor 2 Jahren in den linken Kotflügel vorne gefahren hatte (nur oberflächlich), noch eine sehr tiefe Schramme hinten rechts dazugekommen war, weil mein Einweiser geschlafen hatte und der Begrenzungsstein der Sache auf den Grund gehen wollte.
Weil also der Beulen-Doktor beim Preisaushandeln mir noch eine Innenraum-Reinigung drauflegte, hatte ich also eben diesen von Kleinteilen befreit und alles in einer Klappkiste neben die Schlafzimmertür in den Flur gestellt und noch nicht zurückgeräumt.
Ja, und dann hatte ich nach nur zwei Stunden Schlaf morgens um sechs ein dringendes Bedürfnis und schlaftrunken nicht mehr an eben jene Kiste gedacht. Im Dunkeln bin ich wohl ein wenig zu weit nach rechts abgedriftet, mein rechter Fuß hatte nicht den erwarteten Bodenkontakt, während mein linker - dem normalen Ablaufmuster folgend – bereits dabei war, die normale Schritthöhe zu erklimmen.
Engel fliegen tief.
Ich flog. Trotz Nachtretens mit dem rechten Fuß, der wiederum nur in der gefüllten Faltbox landete, auf die nicht so weit entfernte, gegenüberliegende Wand zu. Mein Flur ist nämlich nur so breit wie meine Haustür plus Rahmen.
Es trat das Phänomen der Zeitdehnung ein. Ich flog endlos. Waagerecht. Im Flug versuchte ich noch, mich mit der rechten Hand irgendwo zu halten (wo?), da knallte ich bereits mit der rechten Schläfe gegen die harte Mauer.
Während ich förmlich daran heruntertropfte (Zeitlupe), dachte ich viele Dinge zeitgleich:
… gleich gibt es das trockene „Tock“, mit dem in den Filmen immer das Genick bricht, wie bei einem starken splitternden Ast…
… Scheiße, ausgerechnet zwei Tage vor Weihnachten – und ich dachte doch, ich hätte alles erledigt und könnte jetzt…
… und wenn sie dich finden, wie lange liegst du dann schon hier…
… wenn jemand Hilfe holt (WER?!), kriegen sie noch nicht mal die Tür auf, weil du quer dahinter liegst…
… was genau ist jetzt eigentlich passiert…?
... ach, Scheiß! Kiste!
… lebst du noch…?
… wie bist du jetzt sortiert…?
… wieso tut dir der kleine Finger weh…?
… und das Knie? Gebrochen!! Krankenhaus!!!
… Bestandsaufnahme!!!
Immer noch an die Mauer geklebt, tastete ich nach dem schmerzenden kleinen Finger der rechten Hand. Offensichtlich hatte diese auch Mauerkontakt gehabt: Der Finger stand L-förmig nach außen ab. Nein, das war so nicht in Ordnung. Gebrochen? Gips an Weihnachten? Und dann noch rechts!? Ich drückte ihn mit der linken Hand wieder in Position – sehen konnte ich ja nichts, ich lag ja seltsam gefaltet immer noch im Dustern. Links „lag“ ich, rechts hing mein Fuß in der Luft, irgendwie.
Langsam rappelte ich mich auf, besuchte mein ursprüngliches Ziel, hielt die ganze Zeit den wegstrebenden kleinen Finger der rechten Hand mit der linken in Position, fand mit suchenden Augen die Flasche Arnikatinktur auf dem Bord und überlegte,
… ob Wochentag war?
… der Arzt schon in Weihnachtsurlaub sei?
… wie spät es jetzt wohl sei?
… dass ich Gott-sei-Dank gestern noch die Haare gewaschen hatte!
… ob ich mit DER Hand wohl Autofahren könne?
…dass mein Knie wohl nur den Aufprall aufgefangen hatte, aber wohl nichts gebrochen war? (Im Jahr davor habe ich mir eine Rippe gebrochen, bloß weil ich mein Fenster geschlossen hatte!)
Um es abzukürzen: Ich putzte mir die Zähne, zog mich an und fuhr ungewaschen zum Arzt. Die Arnikatinktur träufelte ich mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf das Küchenkrepp um meinen schlimmen Finger, den ich fleißig hin und her bewegte, damit der Bluterguss sich nicht im Gelenk festsetzen könnte.
Kurz vor sieben war ich an der Praxis, bis die Sprechstundenhilfe kam, bis der Arzt kam, bis ich drankam, war es neun. Der Arzt jedenfalls war begeistert, wie „professionell“ ich das „gerichtet“ habe und überzeugte mich schließlich, doch noch zum Röntgen zu gehen, man wisse ja nie. Dann wünschte er mir sehr aufgeräumt „Frohe Weihnachten!“ und strahlte mich über das ganze Gesicht an.
Gut. Fuhr ich halt zum Röntgen. Gegen zwölf wurde ich „nach vorne“ gerufen und bekam emotionslos meine Röntgen-CD ausgehändigt.
Ja, ist jetzt was gebrochen – oder nicht?
„Das darf ich Ihnen nicht sagen!“ „Haben Sie hier KEINEN Arzt, der mir das sagen könnte?“ „Das wird Ihnen der Hausarzt sagen.“ „Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich nur deswegen JETZT nochmal zum Hausarzt gehe, bei dem die Patienten sowieso bis auf die Straße stehen heute!?“ „Ich darf es Ihnen nicht sagen.“ „Außerdem hat mich der Doc mit Frohe Weihnachten! verabschiedet!“
Genervtes Tiefatmen ohne Augenkontakt, Griff zum Telefon: „Ja. Hier ist der kleine Finger, der wissen will, ob er gebrochen ist. … Ja. … Ja. … Er hat Frohe Weihnachten gesagt. … Ja. … Gut.“
Der Hörer wurde aufgelegt. Immer noch ohne Augenkontakt dann mit unfroher Stimme: „Frohe Weihnachten.“ „Wie jetzt – also nichts gebrochen?“ „Frohe Weihnachten!!“
Und die hatte ich dann auch. Dank Arnikatinktur ist der Finger auch nicht mehr sooo schlimm.
Mein Freund meinte übrigens später, ich solle doch mal versuchen, nicht immer mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Was mich daran erinnerte, dass meine Mutter in ihrer „pragmatischen“ Art in dem Fall spontan gefragt hätte: „Und? Hast du den Fettfleck schon weggekriegt?“
Nur die Harten kommen in den Garten.
© noé/2015 Alle Rechte bei der Autorin
Kommentare
DER Finger ist ja doch sehr wichtig!
Drum scheint auch seine Wartung wichtig…
(Denn: wär’ der Finger nicht genesen –
Schreiben – wär’ Essig schlicht gewesen….)
[Gedicht, Geschicht und Thesen:
Wir wollen gerne von Dir lesen!]
LG Axel
Harharr-harr! Köstlich erfrischende Lektüre!
Was man doch alles erleben kann...
Und dann noch die Faxen in den Praxen!
Grüße von einem weiteren Tiefflieger
Wieso? Hast Du auch den Boden geküsst, Alf?
Axel, danke für den Vers mit Aussage!
Nö, aber ich bin öfter mal schusselig
Aha, also SCHUSSELIG!?! Ich hätte dout bliewe könne!!!
Hä? - ach so! nein, nein, nicht...