Vorweihnachtliche Wintersplitter

Bild von noé
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Wie war das damals im Winter – das Fotoalbum in meinem Kopf zeigt mir Einzelbilder.

Kaninchenmuff – wer weiß noch, was das war? Ein Geheimfach am Bande, ein Wärmetresor vor dem Bauch, Gemütlichkeit zum Mitnehmen. Meine Oma hatte ihn mir genäht, mit eigener Hand und einer Schusterahle. Damit nähte sie aus Kaninchenleder und Zwirn eine hohle Rolle, das Fell nach innen, befestigte rechts und links ein Band und hängte mir das Ganze um den Hals. Ich versteckte in der Rolle beide Hände und Wechselgeld und Bonbons und was weiß ich und konnte durch die wallenden Nebel meiner norddeutschen Heimat spazieren, ohne dass die Kälte mich in die Finger biss.

Schnee – selten gab es "richtig" Schnee. Er fiel, aber was nicht gleich wegtaute, blieb als schmutzige Haufen an den Rändern der Bürgersteige liegen. Einen Schneemann zu bauen, mussten wir uns sehr beeilen.

An die Engel kann ich mich erinnern, die wir in den Schnee zauberten. Zwischen den Häuserreihen auf den Wiesen hielt er sich auf dem gefrorenen Rasen und die Kinder lagen auf dem Rücken und strichen mit ausgebreiteten Armen und Beinen fächerförmig Flügel und Kleid der Engel in den Schnee. Und dann "seiften" sie sich gegenseitig die Gesichter ein, bis aus dem Lachen ein Weinen wurde und alle in ihre Familien auseinanderstoben.
In dieser Zeit buken die Engel im Himmel die Weihnachtskekse und das Brot, der himmlische Backofen brachte die Sonnenuntergänge zum feuerroten Glühen.

Je näher es auf Weihnachten zuging, desto leckerer duftete es in der Wohnung. Oma buk nämlich ebenfalls. Ihren berühmten schlesischen Streuselkuchen. Wir nannten ihn „Nischt“, also „Nichts“, denn, wenn wir mal wieder eine Stippvisite in der Küche machten und Oma misstrauisch vom Herd her fragte: „Was kaut ihr denn da?“, schauten wir mit den unschuldigsten Gesichtern und sagten mit vollem Mund „Nischt“ – und jeder im Raum wusste, dass wir wieder etwas von dem leckeren Streuselteig geklaut hatten – weshalb sie von vornherein mehr davon knetete, damit es dann doch noch reichte.

Auch die andere Oma bekam jedes Mal ein Blech Streuselkuchen geschenkt, den sie wie einen Schatz in der Speisekammer hütete. Je länger sein Aufenthalt dauerte, desto härter wurde er und desto weniger Streusel blieben auch dort übrig, aber daran war die Oma selber schuld, denn sie war genau so ein Feinschmecker wie wir.

Wenn die Mutter aus dem Dienst kam und wir Abendbrot gegessen hatten (oh, wie lecker war das "Hasenbrot", das von ihr nicht gegessene Pausenbrot des Tages, das zu ergattern, gab es Wettkämpfe), setzten wir uns im Wohnzimmer zusammen, knackten Nüsse, schälten die Flecken aus den gelagerten Äpfeln, hatten die Kerzen an auf dem Adventskranz, das Räuchermännchen schmauchte seine Pfeife, der Ofen knackte oder simmerte, wenn wir die Apfelschalen hineinwarfen und wir hörten die Geschichten aus der Kinderbibel, die Mama uns vorlas, jeden Tag eine.

Und dann kamen die Geschichten von früher, als alles noch besser war, weil man noch Zuhause war, in Schlesien, als der Schnee noch so hoch lag, dass er meiner Oma bis zur Schulter reichte. Dass sie trotzdem jeden Morgen in die Schule ging (im Winter musste sie ja nicht in der Landwirtschaft helfen), und zwar kilometerweit. Dass man manchmal die Wölfe hören konnte und sie dann ganz schnell mit ihren kurzen Beinchen und den viel zu großen Schuhen hinter ihren größeren Brüdern hergerannt ist. Dass das damals noch "richtige" Winter waren, 40 Grad minus und trotzdem nicht so kalt wie hier, weil die Luft trocken war, nicht so nass wie die von See.

Es waren jedes Mal dieselben Geschichten und trotzdem nie langweilig. Unvergessen die von dem "sprechenden" Schäferhund: Der stand auf seinen Hinterbeinen am Gartentor und wenn jemand sich näherte, knurrte er tief in der Kehle "Wirrschte harrgarrn!", was soviel wie "Wirst du's hergeben!" bedeutete. Besonders Hausierer und Gesindel schlug das in die Flucht im nachmittäglichen Zwielicht. Das war auch derselbe Hund, der über die Leiter im oberen Stockwerk durch die Fenster einstieg - bis der Vater einfach eine Sprosse entfernte und so einer der Hinterläufe des genasführten Tieres nutzlos nur das Leere trat. Daran hatte Oma auch nach Jahrzehnten noch ihren Spaß - und wir den unseren an ihrem.

Irgendwann wurden wir in die Betten geschickt und auch in unseren Fenstern erlosch das goldene Licht der Winterzeit, während die Eisblumen sich an den einfachen Glasscheiben filigran und bizarr emporzuranken begannen.

© noé/2013 Alle Rechte bei der Autorin.

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Kommentare

19. Dez 2014

Gut, dass es dies "Album" gibt -
"Kleine" Geschichten, die man liebt!
LG Axel

19. Dez 2014

Danke, Axel. Das ist zwar "außer der Reihe" - wird aber gerne mit aufgenommen, Recht hast Du!