Lass sie ziehen

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Sie ist unendlich, unfassbar, unaufhaltsam,
rast davon, und scheint doch manchmal
nicht vergehen zu wollen,

sie täuscht dich, du verwünschst
oder lobst ihre Flüchtigkeit,
das hält sie nicht an, das hilft dir nicht,

du irrst dich, wenn du meinst,
zu viel von ihr zu haben oder zu wenig,
denn du kannst sie nicht kontrollieren
und nur vorübergehend gestalten,

sie zerbröselt in deinen Händen,
in deinem Kopf, sie zerfließt,
nicht zu beschreiben,
nicht zu benennen ist sie,

sie ist gefühllos, ohne Mitleid,
heilt keine Wunden, auch deine nicht,

und sie kann doch so kostbar sein,
die besonderen Momente deines Lebens
mir ihr möchtest du nicht missen,

wir gehen durch sie hindurch
oder sie durch uns, nichts wäre ohne sie,
doch auch mit ihr kann nichts sein,

heute, gestern, übermorgen, neulich, bald,
niemals, armselige vergebliche
Versuche, sie in eine Wortform zu pressen,

nichts und niemand kann ihr entfliehen,
auch das Wasser des Flusses nicht,
an dem du wohnst, nicht dein Atem,
nicht dein Leben, deine Liebe,

sie kennt keinen Anfang und kein Ende,
kein Leben, kein Tod ohne sie,

du kannst sie weder beschreiben noch
festhalten, deshalb lass sie ziehen,
lächelnd, denn du kannst lesen:

Was ist Zeit? Wenn mich jemand fragt,
weiß ich es. Will ich es einem Fragenden
erklären, so weiß ich es nicht.
(Augustinus).

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Kommentare

Detmar Roberts
03. Dez 2016

Das überrascht mich, fällt aus der Reihe, ist aber eins, das mir besonders liegt und gefällt. Großes Kompliment dafür.
Grüße D.R.

04. Dez 2016

ZEIT ist ein großes Thema, das mich nicht nur zurZEIT besonders beschäftigt. Alles, was man darüber denkt oder schreibt, ist schon einmal besser gesagt oder geschrieben worden. Einen gute ZEIT am zweiten Advent wünsche ich dir, Detmar.
LG Marie

04. Dez 2016

Wow! Ein starker Text. Das Pulsieren in dem Text, den ich gespannt aufnehme, spüre ich in jeder Zeile. Da durchlaufe ich einen Kosmos, der, wie das Ticken der Uhr, mich erinnert, sie, die Zeit, selbst unbegrenzt, gebietet über mein Leben. Kompliment an die Poetin Marie.
LG Monika

04. Dez 2016

Wenn man sich mit einem so "großen" Thema
befasst und versucht, es in Worten auszudrücken,
ist man in Gefahr, ins Banale abzurutschen.
Danke für deine Zustimmung, Monika.