Sie ist wie eine späte Rose

Bild von Willi Grigor
Bibliothek

Sie ist, weiß Gott, schon aus den Jahren,
wo man sagt: "Sie ist noch jung."
Doch ihr Tun und ihr Gebaren
demonstrieren ihren Schwung.

Auch sie wird älter, keine Frage.
Auf ihre Art: Man merkt es nicht.
Jahre sind ihr keine Plage,
auch nicht die Falten im Gesicht.

Sie läuft mit ihrem Einkaufswagen,
mit Trippelschritten und kauft ein.
Und fragt man: "Soll ich helfen, tragen?"
sagt sie lächelnd: "Nicht nötig, nein."

Sie wohnt allein in ihrer Wohnung,
liebt das Lesen und auch Besuch.
Und wenn man kommt, ahnt man Belohnung,
durch Apfeltortenzimtgeruch.

Beim Unterhalten und Erzählen
sie besonders imponiert,
weil selten ihr die Worte fehlen,
sie den Faden nie verliert.

Sie ist wie eine späte Rose,
fast ohne Zeichen, dass sie welkt,
so wie eine Herbstzeitlose,
die auch im Herbst in Blüten schwelgt.

Sie ist für uns ein Phänomen,
freundlich, klug, gut anzusehn.
Eine Frau, die sich was traut,
auf die man im Vorbeigehn schaut.

Kein Wunder, dass man sich da wundert:
"Wird sie wirklich *morgen hundert?"

© Willi Grigor, 2016
Aus dem Leben

*"morgen" ist am 4. Dezember 2016
Nachtrag März 2019: Nach einem Ausrutscher in ihrer Wohnung, der zu einem komplizierten Beinbruch führte, wohnt Anna-Märta jetzt in einem betreuten Altenheim. Ansonsten ist sie nach wie vor agil und liest gerne Bücher, die sich um die Zukunft des Lebens drehen.
4. Dezember 2019: Bei guter Gesundheit wird Anna-Märta 103 Jahre alt.
4. Dezember 2020: Bei guter Gesundheit wird Anna-Märta 104 Jahre alt, der Beinbruch behindert sie nicht mehr. Allerdings ist sie, wie viele Alte in dieser Corona-Pandemie, mehr oder weniger eingesperrt in ihrem Zimmer. Am Telefon machte sie keinen niedergedrückten Eindruck. Aber das macht sie nie, weiß gar nicht, was das ist.
14. Februar 2021, 10 Uhr, Valentinstag: Anna-Märta (104) überrascht uns mit einem freundlichen Telefonanruf. (Uns "Jungen" war es noch zu früh.)

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