Gedicht für den armen kleinen Mann im dunkelblauen Mantel

Bild von Annelie Kelch
Bibliothek

Kleiner Mann im dunkelblauen Mantel:
dieses Gedicht ist für dich, nur für dich.

Vor mir, in der U-Bahn, kämpfte deine
kleine, magere Gestalt um Halt,
um Licht, um Liebe, um Leben.
Ich blickte auf deinen zerbrechlichen Vogelkopf,
auf dein hellbraunes Haar mit den Schuppen,
den dünnen Hals, um den sich ein ehemals
weißer Hemdkragen schloss.

Dein Seele blickte mich an aus einem
verschlossenen kranken Gesicht und
schien zu flüstern: Ich bin ein Niemand,
ein Nichts ...

Ich glaubte, du hattest einen Tick:
Dein Kopf bewegte sich ständig von rechts
oben diagonal nach links unten.
Immer wieder von vorn, immer wieder und
wieder. Mein erstauntes Lächeln blieb innen
im Körper und verletzte dich nicht.

Du gönntest mir noch einen verstohlenen Blick,
bevor du ausstiegst, wohl deshalb, weil ich dich
so aufmerksam betrachtet habe - als seist du nicht von
dieser Welt, ein überirdisches Wesen, ein Fossil ...

Während der Arbeit musste ich jäh an dich denken:
Mein Blick, so wurde mir bewusst,
ging korrigierend von rechts oben, wo der Monitor stand,
nach links unten zum Manuskript. Immer wieder
von vorn, immer wieder und wieder - bis der Text
druckreif war.

Darüber musste ich lächeln und diesmal war es auch
äußerlich ein unverkennbares Lächeln, für meine
Kollegin sichtbar, die sich wunderte, aber nie
den Grund dafür erfuhr.

Interne Verweise

Kommentare

06. Dez 2016

Es lohnte sich der kurze Blick:
Gefüllt mit Seele - und Geschick ...

LG Axel

06. Dez 2016

Hab Dank - ich hoffe sehr, dass eines Tages
Bertha neben mir steht oder Platz nimmt in der Bahn;
dann fang ich für Sie ein Gedichtchen an,
ach nein, für Bertha Krause müsste es schon ein Epos sein:
In ein Gedichtchen passt sie leider nicht rein.

LG Annelie

06. Dez 2016

In der Bahn gibt es mit Krause stets Krawall:
(Krawall gibt's mir der laufend und überall!)
Sie ist erst 5, drum fährt sie bloß -
Per Kinderfahrschein! (3 Meter groß ...)

LG Axel

06. Dez 2016

Eine schöne Geschichte, durch die Deine Kollegin nun auch den Grund für Dein Lächeln erfährt.

LG
Willi

06. Dez 2016

Danke für deinen lieben Kommentar, Willi; aber ich glaube nicht, dass sich diese Kollegin noch daran erinnert. Ich habe wohl auch öfters mal in mich hinein gelächelt, manchmal waren die Texte danach, die ich korrigiert oder geschrieben habe - und ich habe in verschiedenen 'Unternehmen' gearbeitet und hatte an Gerichten und bei Rechtsanwälten oft sehr viele KollegInnen.

LG Annelie

07. Dez 2016

Eine schöne Momentaufnahme sensibel dargestellt. Die Einmaligkeit des menschlichen Lebens festgehalten. Berührend.
LG Monika

07. Dez 2016

Danke, liebe Monika,
es gibt so viele Menschen, denen man helfen möchte, aus ihrem Leben das Beste zu machen. Man kann nicht allen helfen, und manche wollen auch so weiterleben wie bisher, nichts Neues ausprobieren. Jeder sollte ein (nicht allzu geringes) Budget erhalten, um sich zumindest ein Hobby leisten zu können, worin er/sie sich verwirklichen können, dann gäbe es viel weniger Streit auf der Welt, die Menschen wären zufriedener.

LG Annelie