Schwester

Bild von maruschka
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Meine Schwester im Geist war sie, die alte Frau mit den
wachen blauen Augen und weißer Lockenpracht wie ein
Heiligenschein um den schmalen Kopf, mit ihren vollen
jungen Lippen in ihrem vom Leben und Wetter gegerbten

Gesicht in unförmigen knöchellangen südländisch bunten
Sackkleidern, dazu stets einen dunklen Schal mehrfach um
den dünnen Hals drapiert, auch im Sommer, auch nie ohne
ausgefranste Sandalen über dicken Socken,

sie bettelte nicht aggressiv, saß einfach auf dem Bürger
Steig vor Regen geschützt unter den Arkaden vor der
Volksbank, die Beine angezogen, der kleine Becher selten
gefüllt, der Blick offen und neugierig.

Oft habe ich mich mit ihr unterhalten ebenfalls hockend,
wollte Geschichten aus ihrem Leben hören, sie forderte
mich auch auf, von mir zu erzählen, wir hatten Gespräche
über Leben und Tod, wir haben gelacht miteinander, ein
Gewinn war sie für mich, es war herzlich zwischen uns.

Warum sie bettelt, hat sie mir nicht sagen wollen, Armut sei
jedoch nicht der Grund. Mein Zweieurostück verweigerte sie.

Nun habe ich sie seit Wochen nicht
mehr auf ihrem Stammplatz angetroffen
und sorge mich, mehr bleibt mir nicht,
denn wir kannten nur unsere Vornamen.

Interne Verweise

Kommentare

25. Jul 2017

Viele nehmen sie nicht wahr -
Und plötzlich ist sie nicht mehr da ...

LG Axel

25. Jul 2017

Danke, Axel.
So viele Bettler in der Welt,
den meisten geht es nur ums Geld.
Doch ihr war Reden wichtiger,
ihr Wesen war vielschichtiger …

LG - Marie

25. Jul 2017

Liebe Marie, dein Text gefällt mir sehr; er geht mir nahe. Er ist einfühlsam wie selten Texte sind und regt zum Nachdenken an. Weshalb hat diese alte Frau gebettelt? - Irgendwie erinnert sie mich an Diogenes von Sinope, wenngleich sie mit Sicherheit tugendhafter war. - Weshalb saß sie ausgerechnet vor der Volksbank? - Egal, ich habe noch gedacht, und das ist wohl das Wichtigste: Solange es Menschen wie Marie gibt, wird niemand auf der Straße verhungern und/oder sterben. Zusatz: Eben entdecke ich das Bild, das du gemalt hast: Wundervoll, echt Kunst.

Ganz liebe Grüße zu dir,
Annelie

25. Jul 2017

Danke, sie hatte höchst interessante Gesichtszüge. Tugendhaft im hergebrachten Sinn war sie eher nicht, ihr gelebtes Gesicht sah aus, als hätte sie ihr vergangenes Leben genossen. Und die Volksbank hatte damals einen Regenschutz zu bieten. Im Übrigen bekommen Bettler, die einer organaisierten kriminellen Bande angehören, keinen Cent von mir.

Ebeso liebe Grüße zurück an dich, Annelie!

25. Jul 2017

Liebe Marie, man kann sein Leben auch genießen und trotzdem einigermaßen tugendhaft sein. Seien wir doch mal ehrlich: verlebte Gesichter entstehen durch Laster wie Alkohol, Nikotin, etc., gelebte Gesichter kann man oft nicht davon unterscheiden. Viele Gesichter sind auch von Krankheit gezeichnet. Aber das kann man m.E. unterscheiden. Es kommt immer etwas auf die Lebensweise an. Arbeit im Freien gerbt die Gesichter auch, aber sie sind dann nicht verlebt. Ich glaube nicht, dass ich etwas versäumt habe, weil ich, z.B., nicht gerne auf Partys gehe: Das Gelaber könnte ich nicht länger als eine halbe Stunde ertragen. Das mit der Volksbank kam mir in den Sinn, weil es mal einen Mann in Hamburg gab, der seine Frau durch einen Verkehrsunfall verloren hat. Er wurde Bettler und saß immer an der Stelle, wo sie ums Leben gekommen ist. Bettler einer organisierten Bande bekommen von mir auch keinen Cent, obwohl ich mal einen Bericht gelesen habe, dass das bettelarme Rumänen seien; die Kinder können jedenfalls nichts dafür. Mir hat dein Gedicht wirklich gut gefallen; ich unterhielt und unterhalte mich auch hin und wieder mit "BettlerInnen".

Liebe Grüße zu dir nach Süddeutschland,
Annelie

25. Jul 2017

Da hast du völlig recht, liebes Nordlicht, ich wollte auch nur sagen, sie sah keineswegs "moralinsauer" aus, du weißt sicher, was ich damit meine. Das Wort "tugendsam" habe ich in meiner Kindheit zu oft gehört, mir schien es zu bedeuten, lass die Pfoten von allem, was Spaß macht. Und die Kinder der reell sehr armen Rumänen tun mir besonders dann leid, wenn sie von ihren Eltern von Kindheit an zum Betteln und Stehlen angehalten werden. Sie sollten ihre Chance in guten Schulen bekommen, aber das zu beeinflussen steht außerhalb meiner Reichweite. Im Übrigen habe auch ich Partygeschwätz gemieden, es lag mir nicht.Soweit von mir mit liebem Gruß an dich, du nachdenkliche kreative quicklebendige Annelie!
Marie

25. Jul 2017

Liebe Marie, "keineswegs moralinsauer" finde ich super und statt "tugendsam" sagen wir mal lieber: einigermaßen solide. Ich habe gerne Spaß und lache mich manchmal halb tot über Sachen, worüber andere keine Miene verziehen könnten.

Liebe Grüße,
Annelie

26. Jul 2017

Über den Begriff der Tugend habe ich noch mal nachgedacht und –gelesen, Annelie: Als Tugend kann meiner Meinung nach jede Fähigkeit bezeichnet werden, die eine gute Leistung (für die Gesellschaft) hervorbringt, die das „sittlich Gute“ unterstützt. Was aber das „sittlich Gute“ ist, muss in jeder Epoche, in jeder Kultur neu interpretiert und definiert werden. Liebe Grüße!

Detmar Roberts
25. Jul 2017

Marie, dein Prosagedicht über deine Freundin, die Bettlerin, geht mir nach, denn ich hatte vor Jahren auch einmal näheren Kontakt zu einem bettelndem noch relativ jungen Mann, der aus Griechenland stammte, sein Problem war der Alkohol, so dass ich wusste, wo meine Euro landeten, ich habe ihn trotzdem weiterhin unterstützt, weil ich ihn mochte; ihn zu einem Entzug zu überreden, stand leider nicht in meiner Macht. Er sitzt seit langer Zeit nicht mehr an seinem Stammplatz, was ich bedaure. Dein Sketch zum Gedicht ist gelungen, Respekt.
Grüße – D.R.

25. Jul 2017

Hallo Detmar, herzlichen Dank für deine ausführliche Zuschrift. Ich wünsche dir, dass du deinen bettelnden Freund bald wieder triffst.
Liebe Grüße - Marie

26. Jul 2017

Liebe Marie, mir geht es wie Annelie, wahrscheinlich grübele ich den ganzen Tag und die folgenden darüber, warum die alte Dame bettelte. Ich denke, jeder von uns hat so ein paar Punkte in sich, die ihn /sie ohne Armut betteln ließen, da geht es um sehr viel Tieferes... "Schwester im Geist"- das ist schön. Je älter ich werde desto mehr erkenne ich dass es Familie außerhalb der "Blutsbande" gibt. Ich werde sehr lange und intensiv über deinen Text nachdenken
lG
Anouk

26. Jul 2017

Eine nachdenkliche Zuschrift, vielen Dank, Anouk. Meine Fastfreundin schien beides zu sein, sowohl arm (im Vergleich zu mir jedenfalls) als auch einsam. Eine Dame war sie durchaus, hatte sicher "bessere Tage gesehen". Schade, dass sie nicht mitbekommt, welche Anteilnahme ihr Schicksal hervorruft.
Ganz liebe Grüße - Marie

26. Jul 2017

Ein bewegendes Erlebnis, liebe Marie. Die Vereinsamung unter uns, findet immer mehr statt und wird akzeptiert, die Anonymität steigt. Vielleicht brauchte die Dame beides. Kontakt und Geld. Ich selbst spende auf der Straße kein Geld, spendiere was zu Essen oder zu Trinken.

Dir einen schönen Tag und liebe Grüße
Soléa

26. Jul 2017

Soléa, danke für deine Worte. Etwas zu Essen oder Trinken zu spendieren ist eine gute Idee, dann fließt das Geld nicht in den Alkohol. Man kann sich auch nur mit wenigen Bettelnden wirklich unterhalten, alleine schon wegen der Sprache.
Dir auch einen guten Tag und liebe Grüße - Marie