So wie Sterntaler

Bild von maruschka
Bibliothek

Sie sah sich als Kind in klarer Nacht bei Mondenschein mitten in einer einsamen Waldlichtung stehen, umgeben von dunklen hohen leise raunenden Tannen. Bettelarm und verfroren war sie, hatte alle ihre Kleider verschenkt, so wie Sterntaler, erinnerst du dich? „Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen?“

Hoffnungsvoll schaute sie hinauf in das weite silbern schimmernde Firmament und hielt die Hände bittend über den Kopf. Keine Taler fielen vom Himmel, sondern Sternschnuppen – Regenbogenfarben in allen nur möglichen Abstufungen, allein das Rot tauchte fünfunddreißigfach auf. Sie umhüllten ihren frierenden Körper bald wie ein wärmendes Kleid. Selig ergriff sie so viele von ihnen wie möglich, legte sie sich in den Mund, kostete sie und verschluckte sie langsam. Manche schmeckten süß, andere bitter, einige zerschmolzen zärtlich zwischen Zunge und Gaumen. Wenige lagen ihr noch lange im Magen. Zwei spuckte sie angewidert aus.

Es ist ein Geschenk, mach was daraus, halte die seltenen Farben fest, flüsterte ihr der letzte Traum zu. Gestalte damit das Bild deines Lebens. Doch noch bevor sie, grade erwacht, zu Leinwand und Pinsel greifen konnte, war alles Bunte wieder aus ihrem Kopf verschwunden. Zurück blieben verzauberte Ahnungen und die Erinnerungen an früher, an Oma Lisas abendliche Märchen - Vorlesestunden. Sie holte sich nach langer Zeit wieder einmal ihren Grimm aus dem Regal und las sich beglückt die Geschichte vom Sterntaler vor - Wort um Wort.

1820 gab Jacob Grimm dem Märchen den Titel „Armes Mädchen“. In seinen Anmerkungen schrieb er 1812, dass es aus „dunkler Erinnerung“ aufgeschrieben wurde, nennt aber auch Jean Pauls Roman „Die unsichtbare Loge“ (1793) und Achim von Arnims Novelle „Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber“ als Quelle. Erst in der 2. Auflage seiner Märchensammlung 1819 ändert er den Titel in „Sternthaler“ um. Richtig romantisch, mit dunklem Tannenwald und neugierigen Rehkitzen, ist die beigefügte Illustration zu dem Grimm’schen Märchen "Die Sterntaler" von Viktor Mohn aus dem Jahr 1882.
(Abb.: Brüder-Grimm-Gesellschaft Kassel)

Interne Verweise

Kommentare

26. Apr 2017

Danke, Marie.
Sternthaler war eines meiner Lieblingsmärchen, das mir meine Mutter, als ich noch kaum ein Jahr alt war, oft vorgelesen hat. Ich erinnere mich gern daran. Auch deine weiteren Hinweise das Märchen betreffend sind sehr interessant.

Liebe Grüße
Annelie

26. Apr 2017

Annelie, danke für deine lieben Worte. Märchen sollte man Kindern auch heute noch vorlesen, meine ich, für jedes Alter gibt es die passenden. Für kleinere Kinder eignen sich kurze Geschichten ohne zu viel Gruseln wie die „Bremer Stadtmusikanten“ oder auch „Sterntaler“, Kinder im Grundschulalter profitieren von anderen Grimm-Märchen wie Hänsel und Gretel, Aschenputtel oder Rotkäppchen. Allein das Vorlesen hat schon seinen besonderen Wert.
Liebe Grüße, Marie

26. Apr 2017

Da wäre ich doch wieder so gerne Kind.
Liebe Grüße
Soléa

27. Apr 2017

Liebe Soléa, auch heute noch wird vielen Kindern abends vorgelesen, das regt die Phantasie an, beruhigt und ist doch besser, als sie vor die Glotze zu setzen ...
Liebe Grüße, Marie

Detmar Roberts
27. Apr 2017

Mein liebstes Grimmmärchen war Brüderlein und Schwesterlein. Überhaupt haben mich Märchen geprägt, es war allerdings mein Vater, der sich die Zeit zum Vorlesen nahm. Und dein Farbentraum ist auch märchenhaft, bunt und verspielt ...
Danke auch für die Infos über Grimm und die bezaubende Illustration.
Grüße, D.R.

27. Apr 2017

Danke, Detmar. Brüderchen und Schwesterchen mochte und mag ich auch. „Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komme ich noch zweimal und dann nimmermehr.“ Zwischendurch harte Kost für ein Kind, aber es geht ja - wie alle Märchen - gut aus am Schluss.
Liebe Grüße, Marie