... die du verlassen –
sie atmen noch ...
Gottfried Benn, "Wie lange noch"?
I.
Go ahead (Rektifikation I)
Man stemmte mir uff’n Seziertisch inner Morgue.
Ick hatte zuvor meene Bierkutsche im Landwehrkanal jeparkt.
Lukas, meen armer Jaul, is jämmerlich ersoffen.
Nee, ick war nich knülle, falls Se ditt vamuten ...
Een Donnerknall wie aus eenem Jewehr
wälzte sich durch de nächtliche Stille.
Lukas bäumte sich hoch und peste davon –
wie von allen juten Jeistern verlassen.
Die uralten Jaslaternen warn ma wieda kurz vorm Abkacken
und funzelten asthmatische Atemzüje durch de Jejend.
Da hing een diffuset Licht üba Kreuzberch, kann ick
Ihnen sajen – eene lavajraubraune Suppe, als hätte der Mond
uff de Erde jekotzt. Jründe dafür jibt ett wie Kiesel anne
Spree. Denken Se nur ma an unsern bekloppten
Kaiser, der den ollen Bimarck jefeuert hat.
Jemand hatte mir eene dunkelhelllila Aster
zwischen de Zähne jeklemmt – sehr witzig.
Benn schob Nachtdienst und war noch mieser druff
als icke. ‑ Als er een Skalpell zückte und mir an de Wäsche
wollte, spuckte ick dett Jemüse aus und packte ihn an
seene Jurjel. Erschrocken ließ er dett Messer fallen
und bat tausend Ma um Varjebung -
falls ick sein Jekrächze richtich jedeutet habe.
Ick lockerte meenen Jriff und Benn nötichte mir vom
Tisch, der unter eene kalte Neonröhre jerückt war.
Er schüttelte meene Hand und bot mir dett „Du“ an.
Wir tranken „Highland Park“, alten schottischen Whiskey,
aus milchichtrüben Reajenzjläsern
(ick will jarnich wissen, wat da früher ma
allet drin rumjekurvt is),
bis een blutjunget Ding einjeliefert wurde.
Jottfried umarmte mir und jrinste:
Nichts für ungut, Hannes, aber die Pflicht ruft.
Go ahead und vergiss deine kleine Aster nicht!
II.
Aus anderer Sicht
Wir fanden Schneewittchen im frühen Morgengrau;
sie lag halb im Schilf verborgen, ein herziges Zuckerpüppchen
von höchstens 16, und sah indeed tausend Mal schöner aus
als die Alte, ihre böse Stiefmutter, die Verrückte mit dem Spiegel.
Alles an ihr schmeckte lecker – einfach alles!
Wir konnten uns nicht an ihr sattessen.
Zunächst knusperten wir an ihrem blutroten
Mäulchen herum, aber dann ging es
heisterkoppheister den Schlund hinunter.
Unter ihrem Zwerchfell bauten wir uns ein Nest,
mit allen Schikanen, urgemütlich.
Wir labten uns an Leber und Nieren
und schlürften ihr kühles Blut, total lecker.
Ich kann Gottfried nur beipflichten:
Wir hatten indeed eine schöne Jugend.
Was dagegen?
Okay, man warf uns später ins Wasser.
Mag sein, dass Tom und Freddy dabei gequietscht haben,
aber von wegen tot ... was Gottfried nicht wusste:
Unsere Spezies kann schwimmen.
III.
(Rektifikation II)
Es war gegen Abend; ein warmer
Sommertag ging zu Ende.
Ich wollte die Pferdedroschke anhalten, die
mit Karacho übern Ku’damm rauschte.
Im Fond saß ein weißer Mann
und schrie gellend um Hilfe.
Ich hätte das für jeden versucht ...
Eine Weile rannte ich neben dem Ausreißer her
und versuchte, die Zügel zu packen – vergeblich:
Der Gaul war wie von Sinnen. Keine Ahnung, was
das arme Tier in Panik versetzt hat.
Der Kutscher flog im hohen Bogen vom
Bock und stürzte auf das Pflaster.
Das Pferd schlug aus und brachte
mich zu Fall; ein zweiter Hufschlag
zerfetzte meine Stirn und das rechte Auge.
Ich war mehr tot als lebendig.
Schon möglich, dass ich schmutzige Füße hatte.
Ich befand mich auf dem Nachhauseweg von der
Arbeit und trug keine Socken in den Sandalen.
Ich bin Steinträger von Beruf, hauptsächlich auf Baustellen.
Die blonde Frau war mir gänzlich
unbekannt; sie war auffallend schön.
Ich glaube, irgendein Unhold hat sie ermordet.
Damit habe ich nichts zu tun.
Ich halte mich von weißen Frauen fern,
soweit es sich irgend vermeiden lässt; man kann ja nie wissen ...
Bleibt mir nur noch zu sagen, dass mich
das Wort "Nigger“ sehr verletzt hat.
Ich bin Kongolese, ein Schwarzer.
Und dieser Benn ... ist der etwa Rassist?
IV.
Jetzt rede ich
Also Gottfrieds Azubi Egon, dieser Hundsfott,
fleddert Leichen. Gestern schlug er mir den
letzten Backenzahn raus und riss ihn sich unter den Nagel –
einzig und allein wegen der Goldplombe.
Von dem Geld, das ihm der Pfandleiher dafür gab,
sei er tanzen gegangen, sagt Gottfried.
Vonwegen – im Puff ist der Kerl gewesen,
bei Claudette. Dort kennen ihn alle.
Den Gottfried übrigens auch.
Der kommt zweimal die Woche,
falls er nicht grad in festen Händen ist.
Zu allem Überfluss kam dann auch noch
dieser blöde Spruch von der Erde.
Wetten, Egon, dieses elende Miststück,
geht über Leichen?
V.
Requiem
Hirn: Gottfried hat das alles nicht verkraftet, wenn Sie
mich fragen.
Brust: Sie fragt aber keiner, Hirnie.
Hoden: Der hat doch `nen Sockenschuss!
Arm: Wenn ich den zu fassen kriege ...
Bein: Tritt in den Hintern ...
Haar vom Weib: Tz-tz ...
Alle (außer Hirn): Gottfried kann uns mal kreuzweise ...
Der hat se doch nicht mehr alle.
Kommentare
Nich übel wa ?
LG Micha
Meine Antwort auf Morgue, ein Gedicht von Benn, über das ich mir viele Gedanken gemacht habe, konnte es einfach nicht verstehen, dass dieser großartige Dichter Sachen von sich gegeben hat, die einfach nur diskriminierend waren.
LG Annelie