Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 28

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sein kann, daß ich ihn nicht schonen würde, wenn ich die Uebermacht hätte. Ich kenne die ganze Tragweite dieses Gedankenganges; aber wenn die Menschen wirklich vernünftig sind, gehorchen sie bloß der Natur und legen ihren Handlungen keine anderen Schranken auf, als ihre Wünsche, ihren Willen und ihre Leidenschaften. Was man Tugend nennt, ist ein Wahngebilde für mich. Dieser unbestimmte, haltlose Begriff, der mit dem Klima sich ändert, erweckt in mir keinen einzigen großen Gedanken. Die Tugend eines Volkes wird immer nur das Werk eines Landstriches oder seines Gesetzgebers sein. Die Tugend des richtig denkenden Menschen ist die, jeden möglichen Wunsch zu befriedigen. Nichts ist in meinen Augen ein Verbrechen, weil es keine Handlung gibt, die nicht von Ihnen als verbrecherisch bezeichnet wird und die doch einmal irgendwo hochgeschätzt wurde. Sowie eine Handlung aber nicht durchwegs als Verbrechen betrachtet wird, so wird schließlich das Verbrechen überhaupt zu einer wertlosen geographischen Frage. »O, Justine! Meine einzige Moral besteht darin, alles zu tun, was mir gefällt und meinen Wünschen keine Schranken zu setzen. Meine Tugenden sind bei Ihnen Laster, und meine Verbrechen sind bei Ihnen gute Taten; was Ihnen rechtschaffen erscheint, ist in meinen Augen abscheulich, Ihre guten Werke stoßen mich ab und Ihre Tugend ist mir ein Greuel; und daß ich noch nicht so weit halte wie Eisenherz, der die Leute auf der Landstraße ermordet, hat nicht seinen Grund darin, daß ich nicht schon oft den Wunsch danach empfunden hätte, sondern darin, daß[64] ich reich bin, Justine, und daß ich mindestens ebensoviel Böses tun kann, ohne mir so viel Mühe zu geben oder mich solchen Gefahren auszusetzen«.

Justine konnte sich solchen Beweisgründen gegenüber nur schlecht behaupten, und ihre Tränen rannen reichlich. Die Tränen sind der Trost des Schwachen, wenn ihm das Trugbild entzogen wird, das ihn stützte. Er wagt es vor den Augen des zerstörenden Philosophen nicht wieder aufzubauen, aber er trauert darum. Die Leere erschreckt ihn und da er die süßen Freuden des Despotismus nicht genießen kann, so schaudert er über die Sklavenrolle, die ihm die zügellose Tyrannei des Stärkeren auferlegt.

Bressac wendete bei seinem Versuch, Justine sittlich zu verderben, jeden Tag fast dieselben Waffen an. Aber er konnte nicht recht ans Ziel kommen, denn die Arme hielt schon aus Notwendigkeitsgründen an der Tugend fest.

Der klugen und gottesfürchtigen Frau v. Bressac war es nicht unbekannt, daß ihr Sohn durch ein unzerstörbares philosophisches Gebäude alle Laster rechtfertigte, denen er sich hingab. Sie vergoß darüber viele bittere Tränen in den Armen Justines, und da sie bei ihr Verstand, und Mitgefühl fand, vertraute sie ihr gern ihren ganzen Kummer an.

Jedoch die Uebeltaten ihres Sohnes überschritten beinahe jede Grenze. Nicht nur, daß er seine Mutter mit all den Flegeln umgeben hatte, die seinen Vergnügungen dienten, er trieb die Frechheit sogar so weit, der verehrungswürdigen Frau zu erklären, daß, sollte sie sich noch einmal seinen Neigungen widersetzen, er sie mit ihren eigenen Augen von den Reizen dieses Liebesgenusses überzeugen wolle.

Wir haben uns ein Gesetz daraus gemacht, alles wahrhaftig und genau zu beschreiben, und dieses Gesetz lastet nun schwer auf unserem Gemüt. Aber wir haben versprochen, bei der Wahrheit zu bleiben und jede Verschleierung wäre eine Beleidigung unserer Leser, deren Wertschätzung uns wertvoller ist, als alle Vorurteile der Schicklichkeit.

Frau von Bressac hatte die Gewohnheit, alljährlich die Osterfeiertage auf ihrem Landgut zu verbringen; erstens weil es dort ruhiger war, und zweitens, weil der Pfarrer dieses Dorfes ihrer sanften und vielleicht ein wenig eingeschüchterten Seele besser zusagte. Diesmal nahm sie nur 2 oder 3 Diener und Justine auf die Reise mit, während ihr Sohn, der sich nicht langweilen wollte, ungefähr dieselbe Dienerschaft wie bei allen anderen Reisen mitbrachte: Kammerdiener, Lakaien, Läufer, Sekretäre, Jockeys mit einem Worte, alles, was sonst seinem Vergnügen diente. Das erregte den Unwillen. Frau von Bressacs und sie wagte es, ihrem Sohne vorzuhalten, daß es für einen Aufenthalt von acht Tagen nicht lohne, soviel Leute mitzunehmen. Als der junge Mann diese vernünftigen Einwände in den Wind schlug, gebrauchte sie ihm[65] gegenüber einen befehlenden Ton. »Höre,« sagte Bressac nachher zu Justine, die nur widerstrebend die Befehle ihrer Gebieterin übermittelte, »sage meiner Mutter, daß der Ton, in dem sie mit mir spricht, mir mißfällt. Es ist Zeit, daß ich ihr einen anderen angewöhne, trotz der guten Werke und der frommen Beschäftigung, der sie sich heute vormittags in deiner Gegenwart gewidmet hat. Denn ich weiß wohl, daß, trotzdem ich dich von der Lächerlichkeit der christlichen Religion überzeugt habe, du doch täglich deine Andacht verrichtest! Trotz alledem will ich ihr sofort vor deinen Augen eine kleine Lektion erteilen, aus der sie hoffentlich Nutzen ziehen wird.« – »O, mein Herr ...« – »Gehorche und gewönne dir an, niemals zu widersprechen, wenn ich dir Befehle erteile.«

Das Schloßtor wurde zugesperrt und zwei außen stehende Wachen hatten Befehl, jedem, der Einlaß verlangte, zu sagen, die gnädige Frau sei soeben nach Paris zurückgekehrt. Nun stieg Bressac mit seinem getreuen Jasmin und einem anderen, Josef genannten Diener, der schön wie ein Engel, frech wie ein Henker und kräftig wie Herkules war, zu den Gemächern seiner Mutter hinauf. »Madame,« sagte er beim Eintreten zu ihr, »ich muß endlich mein gegebenes Wort halten und sie selbst von dem unglaublichen Vergnügen überzeugen, das ich empfinde, wenn ich Arschfickerei betreibe. Hoffentlich werden Sie sich dann nicht mehr meiner Vorliebe widersetzen!« – »Wahrhaftig, mein Sohn ...« – »Schweigen Sie, Madame, bilden Sie sich nicht ein, daß Ihre Eigenschaft als Mutter Ihnen auch nur das geringste Recht über mich gibt. Für mich bezeichnet dieser Titel nur, daß Sie sich ficken ließen, um mich in die Welt zu setzen. Sie werden sehen, um was es sich handelt, Madame. Ich bin überzeugt, wenn Sie einmal über meine Genüsse urteilen können, werden Sie sie achten und sie zu reizvoll finden, um zu wagen, sie mir zu verbieten. Durchdrungen von Ihrer Ungerechtigkeit werden Sie dann, hoffentlich, meine süßen Leidenschaften Ihren lächerlichen Befehlen vorziehen.«

Bei diesen Worten schloß Bressac Türen und Fenster. Dann näherte er sich dem Bette, auf das sich seine Mutter hingelegt hatte, um einen Augenblick lang von den religiösen Anstrengungen des Vormittags auszuruhen, befahl Josef, sie festzuhalten

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
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